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50 Jahre Volksbühne Berlin Der Ruf aus "Wilhelm Tell" ist noch immer unerfüllt

Am 21. April 1954 begann mit Schillers Wilhelm Tell die Nachkriegsgeschichte der (Ost)-Berliner Volksbühne. In sieben Jahren Bauzeit war das zerstörte Theater an alter, wenn auch in Rosa-Luxemburg-Platz umbenannter Stelle rekonstruiert worden. Neu waren die Rechtsform - die namensgebende Besucherorganisation war im FDGB aufgegangen - und einige bauliche Details: Der Marmor in den Foyers und Teile der Holzverkleidung stammen aus Hitlers Reichskanzlei, und die Inschrift "Die Kunst dem Volke" wurde vom Portal entfernt.

Ginge es nach Benno Besson, hätte man das Wort "Volk" auch aus dem Namen des Hauses gestrichen, der ihm ebenso suspekt sei wie die Etiketten "Volkstheater" und "Volkskulturhaus", die im Sternfoyer der Volksbühne verteilt wurden. Dort wurde das 50. Jubiläum am letzten Freitag mit einer Doppelveranstaltung begangen, deren erster Teil fast 250 Jahre Theaterkompetenz zusammenbrachte: den Publizisten Ernst Schumacher, einer der profundesten Kenner des DDR-Theaters, Roman Weyl, in den Fünfzigern Chefausstatter, und Besson, von 1969 bis 1977 erst Chefregisseur, dann Intendant des Hauses, das unter seiner Leitung eine künstlerische Hochzeit erlebte.

Legendär geworden sind die "Spektakel" genannten Veranstaltungen, mit denen sich das Theater auf eine bis dahin unbekannte Weise dem Publikum öffnete, indem es ihm Einblick nicht nur in alle Räume, sondern vor allem in die Arbeitsweise gewährte. Auf solche Durchlässigkeit für die Wirklichkeit nicht eines "Volkes", sondern ihres konkreten Publikums beruft sich auch die jetzige Belegschaft um den Intendanten Frank Castorf.

Der war an diesem Abend verhindert, und so waren Themen und Epochen, die die Moderatorin Annett Gröschner ansprach, unstrittig. Das verleitete Weyl und Schumacher dazu, ihren Erinnerungen freien Lauf zu lassen, um gelegentlich aus dem knapp 80-köpfigen Publikum, überwiegend ehemalige und aktive Theaterangehörige, korrigiert oder ergänzt zu werden.

Die angesetzten anderthalb Stunden waren um, als eine Bemerkung Schumachers das Gespräch aus der Lethargie riss. Was von der Tradition des Hauses übrig geblieben sei? fragte er so in die Runde, dass der Vorwurf unüberhörbar war - und entsprechende Reaktionen hervorrief. Den Hinweis der Moderatorin auf das Verdienst der "neuen" Volksbühne, dem Theater ein neues, weil junges Publikum erschlossen zu haben, wischte Schumacher beiseite und schalt Castorfs Theater als naturalistische "Gebetsstunden", denen es an "konkreter Bezüglichkeit" fehle. Der zwei Tage zuvor in einem Zeitungsartikel vorbereitete Generalangriff rief den Dramaturgen Carl Hegemann auf den Plan, der sich - "bei allem Respekt" - gegen das "überholte" Politik- und Theaterverständnis verwahrte.

Während sich unter den knapp 80 Zeugen eine rege Diskussion entspann, scharrte eine Etage tiefer ein gut 800-köpfiges neues, weil junges Publikum ungeduldig mit den Füßen. Durch den Tumult im Sternfoyer hatte sich der Beginn des 51. "Videoschnipselvortrags" im Großen Haus verzögert, in dem Jürgen Kuttner historisches (Bild-)Material einer ebenso unterhaltsamen wie erhellenden Lektüre unterzieht. Thema zum Jubiläum: "Missgünstiger Weitblick auf die Volksbühne, deutliches Widerwort von Besson und Volksbühnenstars in schlechten Nebenrollen".


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