Solidarität im französischen Bett

IM THEATER Frank Castorf inszeniert "Endstation Sehnsucht" in der Berliner Volksbühne

Seit Freitag, dem 13. wird die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wieder bespielt. Dringend erforderliche Baumaßnahmen hatten eine Schließung notwendig gemacht, die sich durch den sattsam bekannten Streit um die Finanzierung der Berliner Theater länger hinzog als geplant. Bauliche Veränderungen aber fallen erst mit Betreten des Großen Hauses auf: Während die Foyers, Garderoben und Toiletten in ihrem alten, durchaus verbesserungswürdigen Zustand geblieben sind, ragt in die hinteren Reihen des Parketts jetzt ein riesiges Technik-Pult, und im gesamten Zuschauerraum hängt noch der Geruch des Neuen.

Neu und frisch, und doch bleibt noch manches zu verbessern - so präsentiert sich auch die Wohnung des Ehepaares Kowalski, die Bert Neumann für Frank Castorfs Inszenierung von Tennessee Williams' Endstation Sehnsucht entworfen hat. Die Koproduktion mit den Salzburger Festspielen wurde dort im Sommer mit großem Erfolg gezeigt - und läuft nun unter anderem Namen. Bis nach Amerika hat sich der eigenwillige Umgang Castorfs mit dramatischen Vorlagen herumgesprochen; mangelnde "Werktreue" argwöhnend, hat der Inhaber der Rechte eine einstweilige Verfügung erwirkt, die zur Änderung des Titels zwang: Endstation Amerika. Eine Bearbeitung von Frank Castorf von Endstation Sehnsucht - A Streetcar Named Desire von Tennessee Williams lautet der Abend nun.

Ein kleiner, heller Kasten vor dem großen, schwarzen Loch der Hinterbühne beschreibt die Dimensionen eines bescheidenen Idylls zwischen großem französischen Bett zur Linken und kleiner amerikanischer Küche zur Rechten, das seine Gemütlichkeit aus einer weißen Tapete mit blauen Tupfen und einer Holzvertäfelung, aus Kofferradio, Kaffeemaschine und Fernseher bezieht - auf dessen Bildschirm mittels einer Videokamera alles, was im Bad geschieht, "live" übertragen wird.

In der Küche werkeln Stella Kowalski (Kathrin Angerer) und Eunice Hubbel (Brigitte Cuvelier), während Steve, Eunice's Mann (Matthias Matschke), auf einem der Barhocker am Tresen sitzt und zur Gitarre Lou Reeds Just a Perfect Day singt, das von "glücklichen Tagen" erzählt. Derweil taucht wechselndes Licht das zwar bescheidene, aber immerhin intakte Interieur in alle nur denkbaren Kitsch- und Bonbonfarben.

Mit dem Auftritt von Blanche DuBois (Silvia Rieger) ändern sich Licht und Stimmung. Blanche hat sich zu ihrer Schwester Stella und in ein Gespinst aus Phantasien geflüchtet, die mit Lügen oder Wahnsinn nur unzureichend beschrieben wären: Durch den Verlust des Ehemannes, der Eltern, schließlich noch des väterlichen Gutes hat sie Beschädigungen erlitten, die sie die Wirklichkeit anders erinnern, erleben und erträumen lassen.

Anders zumal als Stanley Kowalski, Stellas Mann, innerlich wie äußerlich stabil gebaut, für den "Glück ist, daran zu glauben, dass man Glück hat". Mit beider Aufeinandertreffen beginnt ein Konflikt, der sich über Monate hinzieht und schließlich von Stanley beendet wird, indem er Blanche mit der "Wahrheit" konfrontiert und damit ihre Einweisung in eine Anstalt bewirkt.

Einen solchen Schluss wird es in der Volksbühne nicht geben, und die "Wahrheit" wird Blanche bruchstückhaft und zweisprachig auf einem elektronischen Schriftband präsentiert, das hoch über der Spielfläche montiert ist. Dort erscheinen auch die zahllosen Regieanweisung, in denen Tennessee Williams, ganz dem psychologischen Realismus verpflichtet, die Gefühlslage der verschiedenen Figuren und damit die Fronten des Konflikts entfaltet.

Das Überraschende an dieser Inszenierung ist, dass sich Castorf, als sei er um "Werktreue" bemüht, fast sklavisch an diese Vorgaben hält - mit der Einschränkung allerdings, dass alles, was die Figuren psychologisch motivieren soll, gewissermaßen von ihnen abgelöst wird. Damit wird ihnen zugleich die vorbestimmte Gefühlslage entzogen, und die Fronten des Konflikts verschieben sich: Was bei Williams säuberlich getrennt sich gegenübersteht - hier der "Täter" Stanley, dort das "Opfer" Blanche, zwischen ihnen die schwangere Stella -, verläuft nun quer durch jede einzelne Figur.

Zwar müht sich auch der Stanley der Volksbühne (Henry Hübchen) nach Kräften, den tough guy zu markieren, der Marlon Brando in der Verfilmung durch Elia Kazan zu Weltruhm verhalf. Aber er mag schreien und wüten soviel er will, keinesfalls ist er das "Tier", als das ihn Blanche auch in der Volksbühne bezeichnet, sondern schlimmstenfalls der in die Jahre gekommene Kegelbruder, der sich im Gorilla-Kostüm der Lächerlichkeit preis gibt.

Aber Marlon Brando trug auch keine Adiletten, jene Badeschlappen mit den drei Streifen, die bestenfalls gegen Fußpilz schützen, nicht aber gegen Beschädigungen, die bereit hält, was gemeinhin "Leben" genannt wird, und die auch Stanley erlitten hat. In der Version der Volksbühne hat er 1971 am Danziger Aufstand teilgenommen und dafür "fünf Jahre als Politischer gesessen" - aber keine Ahnung, was seine Frau meint, wenn sie von "Solidarität" spricht.

Von solcher Widersprüchlichkeit der Gefühle und des Verhaltens bestimmt sind nicht nur die einzelnen Figuren, sondern auch die unterschiedlichen Konstellationen, in denen sie aufeinandertreffen. Denn zwar ist Stella durchaus ganz Liebende, aber nicht unbedingt als Gattin; gern vergnügt sie sich mit Steve, dem seine Frau Eunice zum Mittagessen jedes erdenkliche leibliche Wohl offeriert. Und noch bevor der Gang der Dinge es so will, ist ausgeschlossen, jemand wie "Mitch" (Bernhard Schütz), der zur abgeschnittenen Jeans Cowboy-Stiefel trägt, könne Blanche mit sowas wie "Liebe" aus ihren Depressionen befreien - unter denen er nicht mehr und nicht minder leidet als sie.

Weil Hübchen es am besten versteht, die Widersprüchlichkeit widerspruchsfrei zu einer Einheit und damit zu wahrer Komik zu formen, macht er Stanley zur unangefochtenen Hauptfigur des Abends und scheidet im letzten Akt doch als Akteur aus: Kein Gedanke daran, Blanche die "Wahrheit" ins Gesicht zu sagen, schon gar nicht, sie zu vergewaltigen, wie Williams es vorsieht. Stattdessen zieht er sich hinter das Objektiv der Video-Kamera zurück und beobachtet aus sicherer Distanz, wie bei Stella die Wehen einsetzen. Weshalb sie sich so gar nicht für seine Beteuerungen interessiert, die "glücklichen Zeiten" kämen wieder, sobald ihre Schwester verschwunden sei - wie er sich nicht dafür interessiert, dass sie ohne Kind aus dem Krankenhaus zurückkommt.

Nein, Blanche wird nicht verschwinden, und ein Grund für eine Einweisung ist auch beim besten Willen nicht auszumachen - es gibt nur einen Ort, der die Figuren vor dem schützen könnte, was gemeinhin "Leben" genannt wird: Alles sechs versammeln sich im großen französischen Bett; und während der kleine, helle Kasten vor dem großen, schwarzen Loch der Hinterbühne langsam nach hinten kippt, singen sie, in Kitsch- und Bonbonlicht gehüllt, erneut ein Lied, das von "glücklichen Tagen" erzählt. Aber nun ist nicht mal mehr das Interieur intakt. n

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