Gerüchten zufolge stammt der Vorschlag von Uwe Bohm. Auf die Frage des Regisseurs Peter Zadek, welche Rolle er gern spielen würde, soll der Schauspieler spontan Peer Gynt genannt haben. Selbst als Gerücht ist es glaubhaft: Seit Jahren inszeniert Zadek mit einem festen Ensemble, doch ohne festes Haus. Die Bezeichnung "Menschentheater", die er verwendet, ist jedoch irreführend. Eher handelt es sich um das Paradox einer "Handschrift", die sich darin zeigt, dass der Regisseur die Inszenierung den Schauspielern und dem überantwortet, was sie wenn nicht er-, so doch durchlebt haben. So beschrieb Ibsen die "Quelle", aus der sich sein Peer Gynt im Buch - und nun auch auf der Bühne speist.
Verbrieft ist, dass Zadek in den Neunzigern als einer von fünf Intendanten mitverantwortlich für die Krise des Berliner Ensembles war, das ihm nun für eine Inszenierung "Gastrecht" gewährt, die den Etat des Hauses arg strapaziert: Die Proben dauerten fünf Monate, und die Namen der Beteiligten füllen drei Seiten des großformatigen Programms.
"Wer war Peer Gynt?" fragt selbst Peer Gynt, als er, 80-jährig, in seine Heimat Norwegen zurückkehrt, die er als junger Mann - auf der Flucht genauso wie auf der Suche - verließ. Ein "Lügner", wie seine Mutter im ersten, ein "lieber Junge", wie Solveig im letzten Satz des "dramatischen Gedichts" von 1867 sagt?
Die Antwort hängt davon ab, welchen der beiden man meint: den vor Kraft strotzenden Mann, der die halbe Welt bereist, oder das unbeschriebene Blatt, für das weder Himmel noch Hölle Verwendung haben; den Individualisten, der um jeden Preis er selbst sein will, oder die ernüchterte Kreatur, die sich in einer Zwiebel wiedererkennt: nur Schale, kein Kern; den notorischen Aufschneider, der sich fremder Geschichten so skrupellos bemächtigt wie fremder Frauen, oder den reumütigen Sünder, der seine "finale Bestimmung" im Schoß der Gattin findet, die zugleich die Mutter ist.
Eine extrem zugespitzte Antwort gaben 1971 Peter Stein und die Berliner Schaubühne, die in Peer Gynt den idealtypischen Kleinbürger und in dessen Selbst-Sucht die zugehörige Ideologie ausmachte. Zu diesem Zweck fertigten Stein und sein Dramaturg Botho Strauß eine Textfassung an, auf die nun Zadek, Steins Antipode eher als sein Pendant, zurückgreift.
Auch wenn die Bühne leer wirkt, wenn sich der rote Vorhang hebt - ganz leer ist sie nicht: Auf der Vorbühne stehen zwei schlichte Stühle aus Holz, so weit an die Ränder gedrängt, dass sie Uwe Bohm und Angela Winkler nicht einmal als Requisiten taugen. Ein Taschentuch genügt, um den Zwiespalt aufzuzeigen, in den die Fantastereien des Sohnes die Mutter stürzen. "Du Schwein!" beschimpft Aase Peer mit Worten, die von Gestik und Mimik widerrufen und so als liebende Sorge kenntlich werden - die der Sohn erwidert, wenn die Mutter im dritten Akt stirbt.
Wie die Bühne (Karl Kneidl) auf die Darsteller, ist deren Spiel so auf die Figuren konzentriert, dass man sich fragt, wie gut drei Stunden für einen Text reichen sollen, für den Peter Stein sieben benötigte. Selbst Bohm, sonst stets auch nuschelnder Hamburger, hält akribisch das Versmaß der Vorlage ein und spricht mit einer Zurückhaltung, die den Peer auf nichts festlegt und ihm alles eröffnet.
Die Zeit, die sie den Schauspielern lässt, gewinnt die Regie zurück, indem sie die Szenen miteinander verwebt: Das "Mühldach" im Hintergrund, auf das Peer seine Mutter setzt, erweist sich als Rücken Aslaks (Ronald Zehrfeld). Mit dessen Gang zur Rampe hat Peers Begegnung mit Solveig (Annett Renneberg) bereits begonnen, weil sich die leere Fläche von den Seiten her mit weiteren Gästen füllt, die Ingrids (Deborah Kaufmann) Hochzeit feiern wollen. Der Speicher, in den sich die Braut eingeschlossen hat, besteht aus zwei Stühlen. Um zu ihr zu gelangen, muss Peer nur die Hand ausstrecken - und eher emotional denn körperlich "durch die Luft reiten".
Durch den Brautraub vogelfrei und mit nichts als der Erinnerung an Solveig im Gepäck, flieht Peer in die "Berge", vier Styroporelemente, die auf offener Szene aufgebaut werden. Was immer ihm dort widerfährt - die Begegnung mit den Sennerinnen, der Tochter des Trollkönigs, der Stimme des "Krummen", die Hinterlassenschaften dieser Erlebnisse dienen ihm als Baumaterial für die Hütte, die das prächtige Haus ersetzt, das ihm vorschwebt. Weit entfernt im "Tal" und doch direkt neben ihm sitzt Aase und stopft seine Socken.
Die poetische Verbindung der Bilder, die zwischen Massenszenen und entleerter Bühne wechseln, bestimmt auch den zweiten Teil, der Peer um die halbe Welt und zurück führt. Die grell ausgeleuchtete Begegnung mit Anitra (Anouschka Renzi) gerät zu einem erotisch aufgeladenen Widerstreit der Wünsche und Interessen - und endet mit dem Blick auf Solveig, die auf der dunklen Bühne sitzt und Peer in die Wüste Afrikas ein Lied nachsingt. Der Fahrradreifen, der ihr als Spinnrad dient, wird wenig später zum Ruder des Schiffs, das aus jenen Stühlen besteht, die eben noch die Irrenanstalt bildeten. Deren Insassen formen die Wellen, die nach Peer greifen und ihn vernichten wollen.
Wenn Peer wieder "zu Hause" ist, erlaubt sich die Inszenierung Anspielungen auf die Gegenwart - die mehr im Erleben als in Äußerlichkeiten liegen. Besondere Sorgfalt gilt der Beerdigung des Alten, der sich als junger Mann lieber den Finger abschnitt als in den Krieg zu ziehen. Solche Selbst-Beweise kann Peer auch dann nicht anführen, als der "Knopfgießer" (Gerd David) ihm mehrfach Aufschub gewährt hat. Dem Los, als "Seelenspender" zu enden, entgeht er nicht aus eigenem Verdienst, sondern dank Solveigs Liebe und einer Einsicht, für die er ebenso lang gebraucht hat wie für die Reise um die halbe Welt: ein Leben lang.
Auch wenn die Bühne leer wirkt, wenn der rote Vorhang fällt - ganz leer ist sie nicht: In der Mitte steht ein einzelner schlichter Stuhl aus Holz. "Wer war Peer Gynt?" fragt selbst Peer Gynt. Die Antwort hängt davon ab, welchen der beiden man meint. Es sei denn, man entdeckt sie als denselben.
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