Eng ist es geworden im Deutschen Theater zu Berlin. Nicht auf Dauer, aber für die erste Premiere, mit der nach umfangreichen Bauarbeiten die Saison nun auch auf der großen Bühne eröffnet wurde. Genauer: vor der Bühne. Denn wo sonst die vorderen Sitzreihen stehen, ragt nun eine blutverschmierte Holzwand auf, die Bühne und Zuschauerraum hermetisch trennt. Zwei Stufen bilden schmale Spielflächen, die untere verlegt die Handlung hoch über das Parkett, die obere auf Augenhöhe mit dem Rang. (Bühne: Olaf Altmann)
"Anfänge" lautet das Motto dieser Spielzeit, und nach zwei Premieren von Stücken aus der unmittelbaren Gegenwart in den Kammerspielen widmet sich das Haupthaus nun der ältesten Vergangenheit: der Antike. Am Beginn dieser Exkursion zu den Ursprüngen des europäischen Theaters stand das älteste vollständig überlieferte Drama überhaupt: Die Orestie von Aischylos.
Wie für das frühe fünfte vorchristliche Jahrhundert charakteristisch, ist auch die Orestie eine Tragödie, die - anders als die erst später entstandene Komödie - an der Schilderung eines Einzelfalls menschliche Grundsituationen thematisiert. Diesen Brückenschlag leisten soll der Chor, der als kollektiver Gegenpart zum Individuum und dessen (Un)-Vernunft fungiert.
Mit diesem Grundprinzip jeder antiken Tragödie bricht der Regisseur Michael Thalheimer schon im ersten Bild: "Zehn Jahre sind es nun", beginnt der Chor den Bericht vom Krieg um Troja. Doch da er sich hoch oben unter dem Dach befindet, ist er dem Blick entzogen und nur stimmlich präsent. Genau anders herum hält es Klytaimestra (Constanze Becker), die gleichzeitig die obere Spielfläche erklommen hat. Nur mit dem Nötigsten bekleidet, gießt sie sich wortlos einen Kanister roter Farbe über den Kopf. Und während der Chor das Schicksal ihres Mannes Agamemnon referiert, gönnt sie sich ein Brötchen, eine Zigarette und eine Dose Bier. Erst als die Zeile "Was ist da ohne Weh?" erreicht ist, stimmt auch Klytaimestra in die Klage ein.
Anlass dazu hat sie genug: Ihre Tochter wurde vom Ehemann geopfert, und dessen Platz hat längst Aigisthos (Michael Benthin) eingenommen. Dass die Nachricht des Herolds (Michael Gerber) von der baldigen Rückkehr Agamemnons (Henning Vogt) keine wahre Freude auslöst, ist unter diesen Umständen verständlich. Zugleich beschreiben diese Umstände exakt die Ausgangslage des bürgerlichen Trauerspiels, jener Gattung, mit der sich Thalheimer als Regisseur einen Namen gemacht hat, indem er ihnen durch geschickte Kürzungen die Beschädigungen des modernen Individuums entlockte. Auf Stücke anderer Gattungen und Epochen angewandt, ist dieses Verfahren jedoch regelmäßig problematisch.
Denn auch wenn Klytaimestras Los tragische Züge hat - zu mehr als zu einem Trauerspiel reicht es auch dann nicht, wenn mit Agamemnons Rückkehr aus der Schlacht das Morden im Hause der Atriden wütet, bis mit Orestes (Stefan Konarske) und Elektra (Lotte Ohm) auch die Generation der Kinder infiziert ist. Auf diesen innerfamiliären Konflikt reduziert der Abend die Orestie, und obwohl die Trilogie auf unter zwei Stunden gekürzt wurde, wird das Töten, ersatzweise das Sterben, mit viel Aufwand zelebriert.
Das meint zunächst die Unmengen an Blutkonserven, die sich über Spieler und Boden ergießen, bis jeder Auftritt auf den schmalen Spielflächen zur Rutschpartie wird. Und da die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt ist, wird zur bevorzugten Ausdrucksmöglichkeit ein permanentes Brüllen. Bis sie sich die Zunge aus dem Mund schneidet, ist auch Kassandra (Katharina Schmalenberg) davor nicht gefeit. Ihren kurzen Auftritt absolviert sie in einem grünen Kleid, und dass die Seherin des Unheils die Farbe der Hoffnung trägt ist eine Pointe, die sich nicht zwangsläufig erschließt.
Gleiches gilt für das Licht, das den sterbenden Agamemnon zur Mitte seines halbstündigen Kriechgangs über die untere Stufe effektvoll von unten anstrahlt. Und warum in aller Welt reißt der den Abend begleitende Gitarrist (Kalle Kalima) exakt zum Mord an Klytaimestra den Verstärker auf? Zwar bedauert Orestes brav den Muttermord, doch sind mit den Rachegöttinnen die Urheber seiner Gewissensqualen gestrichen - und damit auch die Notwendigkeit, Zuflucht bei der Göttin Athene zu suchen.
Nun gibt es im 21. Jahrhundert gute Gründe, himmlischem Beistand zu misstrauen. Doch verkennt diese profane Lesart der Orestie, dass die Hinwendung zum "Göttlichen" nicht in die Metaphysik, sondern in das Reich Athenes führt: die Weisheit. Und die ist auch heute noch dringlicher als ein Bühnenschluss, an dem ein unsichtbarer Chor lauthals "Friede für immer" skandiert.
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