Weg von hier!

Vom "Chillen" in der Provinz Falk Richter inszeniert "Drei Schwestern" an der Berliner Schaubühne und verrät die verborgenen Gefühle an den Effekt

Auch darum ist Theater so faszinierend, weil es noch im Scheitern Rätsel aufgibt: Ein auch nach gut 100 Jahren taufrisches Stück wie Tschechows Drei Schwestern, drei renommierte Hauptdarstellerinnen - und nach drei Stunden ein beklagenswertes Resultat. Wie kommt´s?

Ein Indiz ist in der Berliner Schaubühne schon vor Beginn der Aufführung zu sehen: Vor einer riesigen Lamellenwand tut sich ein zweigeteilter Raum auf, vorn ein Steg mit drei Sesseln, dahinter eine verspiegelte Fläche mit verchromten Stühlen und einem Glastisch. Das Bühnenbild von Katrin Hoffmann verwandelt das mondäne Landhaus der Prosorows in einen unterkühlten Raum, der die Drei Schwestern schon vor dem ersten Auftritt aus dem feudalen Russland in die Gegenwart einer Großstadt versetzt. Nur leben lässt sich in diesem Raum nicht.

Von dieser Schwierigkeit handeln die Drei Schwestern in der Tat - nur dass bei Tschechow die Figuren für ihr Scheitern selbst verantwortlich sind. Auf der Bühne hingegen sind die Gründe bereits vor Beginn präsent und damit objektiv. So ist schon vor dem ersten Wort das Stück ein anderes geworden. Welches, bleibt lange in der Schwebe, denn wenn die Spieler auf die Bühne kommen, schweigen sie zunächst. Sprechend sind derweil die Kostüme (Tina Kloempken), die ebenso düster sind wie der Raum. Nur Irinas Strickkleid weist gedeckte Farben auf. Aber die hat ja auch Geburtstag. Das Geschenk macht sie jedoch ratlos: Was soll sie mit einer Tiefkühltruhe?

Wie die Ausstattung steht auch das Requisit für den Versuch, das Stück durch Auskühlung in die Gegenwart zu befördern. Ob die tatsächlich so zum Frösteln ist, sei dahingestellt, und für die Inszenierung ist es egal. Denn die scheitert schlicht an Tschechows Text. Den hat der Regisseur Falk Richter zwar stark verändert, im entscheidenden Punkt aber nicht angetastet. So stehen die drei Hauptdarstellerin vor dem Problem, zwei Stücke gleichzeitig spielen zu müssen. Denn auch die modernisierten Schwestern haben alte Sehnsüchte: Olga (Steffi Kühnert) hat zwar Arbeit, aber keinen Mann. Den hat Mascha (Bibiana Beglau) schon seit Jahren, und fast so lange ist sie ihn leid. Irina (Jule Böwe) schließlich ist noch jung genug, um von Liebe und Arbeit gleichzeitig zu träumen.

Aller drei Dilemma aber ist, dass ihnen die Adressaten fehlen. Nicht einmal "Nach Moskau!" dürfen sie sich sehnen, weil der emphatische Ausruf einem schnöden "Weg hier" geopfert ist. Als Hoffnungsträger scheidet so auch Major Werschinin (Clemens Schick) aus. Der wurde in die Provinz abkommandiert und macht an diesem Morgen seinen Antrittsbesuch. Dass er direkt aus Moskau kommt, interessiert die Schwestern wenig.

Auch andere Reize hat der neue Garnisonschef eingebüßt: Statt der Uniform, trägt er eine graue Lederjacke, und dass er inmitten der Tristesse von der Schönheit des Gartens schwärmt, macht ihn so absonderlich wie die Phrasen von einem neuen Leben. Er selbst steckt noch ganz im alten und einer tiefen Ehekrise, über die er sich bei Mascha ausweint. Warum die sich in ihn verliebt, bleibt unklar: Ihr Mann Kulygin (Thomas Bading) ist zwar ebenfalls ein Tropf, aber immerhin hat es Witz, wie er im Faschingsoutfit lateinische Vokabeln konjugiert.

Befremdlicher als der Umstand, dass Mascha und Werschinin zueinander finden, ist jedoch, wie die Regie sie wieder trennt. Zeit dazu ist im letzten Akt gekommen, wenn die Garnison die Stadt verlässt. Zuvor ist jedoch Pause. Danach wird das Publikum von Flugzeuglärm empfangen, und der Blick fällt auf eine gähnend leere Bühne, auf der, streng voneinander isoliert, sämtliche Figuren stehen: Mascha vorn links, Werschinin hinten rechts, dazwischen sicher 20 Meter.

Wie Bibiana Beglau diese Entfernung überbrückt, macht staunen: Minutenlang steht sie fast reglos frontal zum Publikum. Und obwohl ihr Blick nicht ein Mal zu ihrem Partner geht, erzählen Körperspannung und Mienenspiel alles über Maschas Trauer. Für blankes Entsetzen sorgt deshalb die Fortsetzung. Denn als Werschinin geht, stürzt Mascha hinterher und klammert sich so heftig an ihn, dass er Mühe hat, sie abzuschütteln. Die Szene wird mehrfach wiederholt, bis Beglau zu Boden geht und Verzweiflung simuliert.

Nach der filigranen Vorbereitung ist dieser Schluss ein Schlag ins Gesicht. Trotzdem wäre es falsch, die Schauspielerin dafür verantwortlich zu machen, denn wenn Irina ihre Hässlichkeit beklagt, sucht auch Jule Böwe dafür den Boden auf. Warum auch große Begabungen vor Entgleisungen nicht gefeit sind, ist eines jener Rätsel, die das Theater manchmal aufgibt. Immerhin bleiben Steffi Kühnert vergleichbare Einlagen erspart - was daran liegen könnte, dass Olga als älteste der drei Schwestern ihre Wünsche so weit sublimiert hat, dass sie unter der Oberfläche gären. Und dass Verborgenes nicht das Revier des Regisseurs ist, erweist sich im Schlussbild auch an Natalja (Lea Draeger), mit deren Schreianfall die Peinlichkeit erreicht ist. Ob Falk Richter solchen Unfug angeordnet oder zugelassen hat, macht keinen Unterschied: Ein Armutszeugnis ist es so oder so.


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