Front populaire ist ein Gespensterwort und kommt von weit her. Es meint die französische Volksfront unter dem sozialistischen Politiker Léon Blum (1936/37) ebenso wie den 1973 geplanten, dann verpassten „historischen Kompromiss“ zwischen den Christdemokraten unter Aldo Moro und den Kommunisten unter Enrico Berlinguer in Italien. Heute kann das Wort „Volksfront“ so abschreckend wirken wie Vogelscheuchen. Tatsächlich hat eine solche Allianz der Linken in Frankreich vom4. Juni 1936 bis zum 21. Juni 1937 regiert. Präsident François Hollande hat sich dieses historischen Phänomens jüngst zielstrebig bemächtigt. Er nutzte die 80. Wiederkehr des Wahlsieges der Volksfrontparteien (Sozialisten, Radikale, Kommunisten) am 3.Mai 1936, um eine erneute Präsidentschaftskandidatur für 2017 in Aussicht zu stellen.
Mitte der 30er Jahre war die Volksfront eine Konsequenz der Weltwirtschaftskrise von 1929. Wie alle Volkswirtschaften fand sich auch die französische davon hart getroffen. Doch im Unterschied zu den USA, wo Franklin D. Roosevelt die Reformpolitik des New Deal durchsetzte, suchte die in Paris seit 1926 regierende Union Nationale vergeblich nach einem Ausweg. Das bürgerliche Kabinett verlor bei den Wahlen 1932 seine Mehrheit. Rechtsradikale Bünde wie Action Française und Croix de Feu blühten auf. Am 6. Februar 1934 zogen Rechtsradikale auf die Place de la Concorde und lieferten sich mit der Polizei eine Schießerei. Am gleichen Ort demonstrierten Kommunisten „gegen faschistische Verbände, gegen die Regierung und gegen die Sozialdemokratie“ – so der Aufruf des PCF. 15 Menschen starben, über tausend wurden verletzt.
„Einheitsfront für Arbeit, Freiheit und Frieden“
Das Land taumelte zwischen faschistischer Machtergreifung und Bürgerkrieg. Am 12. Februar 1934 folgten über eine Million Sozialisten und Kommunisten einem Aufruf des Gewerkschaftsverbandes Confédération Générale du Travail (CGT) zum Protestmarsch gegen die faschistische Gefahr. Aber es dauerte noch Monate, bis der PCF von seinem Dogma „Klasse gegen Klasse“ abrückte, also von der Gleichsetzung von Sozialisten, Demokraten und Faschisten. Am 27. Juli 1934 schließlich vereinbarten Sozialisten und Kommunisten einen Pakt zur Aktionseinheit. Weitere drei Monate später sprach PCF-Generalsekretär Maurice Thorez von der „Einheitsfront für Arbeit, Freiheit und Frieden“. Keine Proklamation, sondern konkrete Aktion, denn zum Nationalfeiertag am 14. Juli 1935 riefen Kommunisten und Sozialisten das Comité national du rassemblement populaire aus. Woraufhin sich bald das Wort Front populaire durchsetzte. Neun bürgerliche Regierungen scheiterten zwischen 1932 und 1935 daran, die Krise zu überwinden. Das änderte sich auch nicht mit dem Kabinett von Pierre Laval (1883 – 1945), der Jahre später als Ministerpräsident des Vichy-Regimes mit Hitler kollaborieren sollte.
Laval begann am 16. Juni 1935 mit décrets-lois zu regieren. Er erließ Dekrete, die am Parlament vorbei Gesetzeskraft erlangten. Auf diese Weise wurden Lohnsenkungen verfügt und Höchstpreise festgelegt. Die Massenkaufkraft sank, die Arbeitslosigkeit blieb hoch.
Als Laval dann auch noch Italiens Diktator Mussolini Konzessionen machte, obwohl der im Oktober 1935 gerade Äthiopien überfallen hatte, traten die bürgerlichen Radikalen Anfang 1936 der Volksfront aus PS und PCF bei und verabredeten mit beiden Parteien ein Aktionsprogramm. Hammer und Sichel für die Kommunisten, drei Pfeile für die Sozialisten, die Jakobinermütze für die Radikalen schmückten fortan Flugblätter und Plakate im Wahlkampf.
Volksfront an der Macht
Beim Votum zur Nationalversammlung am 26. April und in der Stichwahl am 3. Mai 1936 errangen die Sozialisten 149, die Radikalen 111, die Kommunisten 72 Mandate – und waren fortan die demokratisch legitimierte Volksfront. Diese Abstimmung löste zuerst eine soziale Explosion und dann eine kulturelle Revolution aus. Es gab umgehend Streiks, die vielfach in Fabrikbesetzungen übergingen. Die pazifistische Syndikalistin Simone Weil (1909 – 1943) beschrieb die Stimmung so: „Einige Tage lang das Gefühl haben, ein Mensch zu sein. Gänzlich unabhängig von all den Forderungen, ist dieser Streik an sich eine Freude – eine reine Freude.“ Als Léon Blum am 4. Juni 1936 die Regierung übernahm, hätten die Erwartungen größer kaum sein können. „Alles ist möglich“, schrieb der linke Sozialist Marceau Pivert. Und Leo Trotzki feuerte seine Genossen in Frankreich mit einer Ferndiagnose aus Norwegen an: „Die französische Revolution hat begonnen.“
Aus der Nähe betrachtet sah alles etwas anders aus. Weil auch die Bergarbeiter streikten, gingen Lichter und Öfen aus. Maurice Thorez mahnte zur Mäßigung, Léon Blum wies darauf hin, dass es keine „proletarische Mehrheit“, sondern eine „Mehrheit der Volksfront“ gebe. Die Regierung aus Sozialisten und Radikalen arbeitete effizient. Die Kommunisten hatten keine eigenen Minister entsandt. Am 7. Juni 1936, drei Tage nach dem Antritt als Premier, moderierte Blum die nach seinem Amtssitz benannte Matignon-Vereinbarung zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Drei von gut einem Dutzend Reformvorhaben wurden schon zwei Tage später ins Parlament eingebracht und noch im Juni beschlossen: Zwei Wochen Urlaub ohne Lohnausfall für alle, eine von 48 auf 40 Stunden verminderte Arbeitszeit und verbindliche Tarifverträge. Bis zum August folgten eine Rentenreform, die staatliche Kontrolle der Getreidepreise, die Verlängerung der Schulzeit, die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie sowie Urlaubsfahrkarten zu ermäßigten Preisen. Vergleichbares schaffte keine Regierung zuvor und danach. Schon gar nicht in nur 80 Tagen.
Am 14. Juli 1936 feierte das Volk tanzend seinen Sieg. Vier Tage später putschte General Franco in Spanien, was nicht nur einen Bürgerkrieg, sondern auch Spannungen in der Pariser Volksfront auslöste. Die Kommunisten wollten den Republikanern Waffen und Flugzeuge liefern, wie das Hitler und Mussolini für den Putschisten Franco taten. Die Radikalen waren dagegen, Blum hielt sich an den Verbündeten Großbritannien, der „Nichteinmischung“ verordnete.
Wirtschaftlich erholte sich Frankreich nur wenig. Die Lohnerhöhungen von bis zu 15 Prozent fraß die Inflation wieder auf. Die Unternehmer unterliefen die 40-Stunden-Woche nach Herzenslust, während zugleich eine Kapitalflucht das Land weiter schwächte. Trotz der desolaten Lage brach ein wahrer Taumel aus – der Esprit de 36 blühte auf. „Es ändert sich die Lust am Leben“ und „das Blut fließt schneller in einem verjüngten Körper“ (Léon Blum). Streiks, Demonstrationen und Fabrikbesetzungen hatten das Selbstbewusstsein der Arbeiter gestärkt. Frauen und Kinder nahmen zum ersten Mal Anteil am politischen Leben. Arbeiterfamilien entdeckten den Sport, Camping und Meer. Der Zugang zu Kultur und kulturellem Erbe wurde von Volkstheatern und Volksbibliotheken demokratisiert. Dokumentiert ist der Esprit de 36 durch Fotos der Magnum-Fotografen Robert Capa, David Seymour und Henri Cartier-Bresson.
Außenpolitisch blieb die Lage so heikel wie der Staatshaushalt zerrüttet. Blum griff zur Notbremse und verkündete am 21. Februar 1937 „die Notwendigkeit dessen, was ich Pause nenne, die Notwendigkeit, die Lohn-Preis-Spirale aufzuhalten“. Das bedeutete, die Löhne einzufrieren und ungerechtfertigte Preissprünge zu verbieten. Am 21. Juni 1937 trat Blum zurück und kehrte im März 1938 – nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland – nochmals für 27 Tage an die Spitze einer Regierung zurück. Aber die Agonie der Volksfront hatte begonnen, deren Ende bereits am 12. November 1937 ein Artikel im KP-Blatt L’Humanité angedeutet hatte: „Es ist unmöglich, mit dem Kapitalismus Schluss zu machen, ohne mit dem Sozialdemokratismus (…) Schluss gemacht zu haben.“ Nach dem Münchner Abkommen Ende September 1938 beerdigte die Regierung von Édouard Daladier den Esprit de 36 nebst den sozialen Reformen. Ein tanzendes Volk gab es nicht mehr.
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