1946: Rasende Priester

Zeitgeschichte In Frankreich wird ein „Velosolex“ genanntes Fahrrad mit Kleinmotor zu einem Riesenerfolg und wird bald in ganz Europa zur Chiffre für Savoir-vivre
Ausgabe 47/2016

Velosolex – nein, das hat weder etwas mit Sex noch mit Rolex-Luxusuhren zu tun. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs begannen französische Ingenieure, an einem preisgünstigen Fahrrad mit Kleinmotor zu basteln. Sie erfanden einen Zweitaktmotor mit knapp 40 Kubikzentimetern Hubraum und einer Leistung von 0,4 PS beziehungsweise 35 Stundenkilometern auf ebener Strecke. Ende 1946, vor 70 Jahren, gingen die Tüftler in Courbevoie in die Serienproduktion. Der Ort lag direkt am linken Seineufer, 23 Kilometer westlich von Paris. Die staatliche Zulassung erfolgte unter der Bezeichnung „Fahrrad mit Reservemotor“. In Frankreich heißt das Gerät seitdem „le Vélosolex“, im Saarland „der Velosolex“, im übrigen deutschen Sprachraum freilich trifft man meistens auf die Bezeichnung „das Velosolex“, selten auf „die Velosolex“. Was das grammatikalische Geschlecht betrifft, handelt es sich also um einen Wechselbalg. Der Autor hält sich an die französisch-saarländische Variante – also „der Velosolex“.

Innerhalb kurzer Zeit war das Fahrzeug zunächst in Frankreich ein Riesenerfolg. Bereits 1953 wurden 100.000 Stück produziert. Die Rohöl- und Benzinknappheit während der Suez-Krise 1956 bescherte den Velosolex-Produzenten steigende Absatzzahlen. Ab 1948 stellte die Schweizer Firma Hispano Suiza jährlich 15.000 bis 25.000 Velosolex in Lizenz her. Ähnlich erfolgreich war das Zweirad mit Motor in den Niederlanden und in Belgien. Bis 1968 wurden europaweit rund sechs Millionen Stück gefertigt – ausschließlich mit schwarzem Fahrgestell. Erst danach gab es auch farbige Rahmen. Technische Verbesserungen in den 60er Jahren steigerten die Leistung des Velosolex um fast 40 Prozent, was sich vor allem bei der Bewältigung von Steigungen bemerkbar machte.

„Das Fahrrad, das von selbst fährt“

Die französische Post bestellte Tausende gelber Exemplare. Mehrere Klöster schafften den Velosolex als Dienstfahrzeug an – für rasende Nonnen und Mönche –, angeblich weil der Motor über dem Vorderrad die Kutten der Geistlichen nicht verdrecken konnte. Wie der mit einem Zwei-Zylinder-Viertakt-Boxermotor ausgestattete 2CV verdankte auch der Velosolex seinen Erfolg einer denkbar einfachen, aber robusten Konstruktion. Spötter nannten das Gefährt denn auch „Ente auf zwei Rädern“. Werbeslogan: „Das Fahrrad, das von selbst fährt“.

Durch die Fliehkraftkupplung entfiel das Kuppeln und Entkuppeln beim Velosolex. Gestartet wurde das Gefährt, indem man in die Pedale trat wie bei einem Fahrrad. Der Motor wie der Benzintank wurden über dem Vorderrad montiert. Der Motorantrieb erfolgte nicht über eine Kette oder Kardanwelle, sondern über eine Reibrolle, die direkt auf den Reifen drückte. Ende der 50er Jahre ging man zu 24-Zoll-Felgen über und erhöhte den Hubraum des Motors auf mehr als 40 Kubikzentimeter. Bei nasser oder gar schneebedeckter Fahrbahn und entsprechenden Reifen sank die Reibung stark, und damit die Kraft, mit der die Reibrolle auf den nassen Reifen wirken konnte. Als Betriebsmittel diente dem Velosolex ein Benzin-Öl-Gemisch von 25:1, später 50:1. Im Lauf der Jahre erfuhren die Modelle technische Verbesserungen, aber keine grundlegenden Veränderungen. Chefkonstrukteure waren die französischen Ingenieure Marcel Mennesson und Maurice Goudard, Inhaber einer Vergaserfirma unter dem Namen „Solex-Sinfac“, die schon in den 20er Jahren existierte. 1974 verkaufte Velosolex die Fabrik an Motobécane, das 1983 von Yamaha übernommen wurde, aber die Produktion nach fünf Jahren einstellte. In Ungarn lief sie noch bis 2002 weiter. Ein Grund für rückläufige Verkaufszahlen in der Bundesrepublik war wohl die seit dem 1. Oktober 1988 geltende Auflage für Velosolex-Fahrer, keine Radwege zu benutzen.

Wie der Citroën 2CV, die Zigarettenmarke Gauloise und die Baskenmütze wurde der Velosolex zu einer Chiffre für französisches „Savoirvivre“. Filme mit Jacques Tati als stürmischem Briefträger auf dem Velosolex und als entschlossenem Kämpfer gegen die Tücken des Geräts machten den Velosolex ebenso bekannt wie Werbefotos mit der jungen Brigitte Bardot in knappen Shorts und hohen Stiefeln auf einem Velosolex. Auch Pressebilder von Hebammen, Pfarrern und Polizisten im Notfalleinsatz steigerten die Popularität des Velosolex, dem in der Schweiz die Spottnamen „der Christenverfolger“ und „das kleine Schwarze“ zuteilwurden.

Die Velosolex-Kultur

In der Bundesrepublik begann die Geschichte des Fahrrads mit Antrieb im Saarland, das bis 1957 zu Frankreich gehörte. In der dortigen Kohleregion zählte der Velosolex zur Grundausstattung der Bergleute und Stahlarbeiter. 1959 gab es in Westdeutschland bereits 15 Händler, die den Velosolex im Angebot hatten, der damals um die 300 DM kostete. Bis 1974 sollte sich der Preis in etwa verdoppeln. Kein Wunder, dass man für echte Oldtimer-Exemplare heute 2.000 Euro und mehr hinblättert. Zwischenzeitlich besitzt der Velosolex Kultcharakter, was in vielen europäischen Ländern Fan-Clubs entstehen ließ, die Ausfahrten, Rennen mit getunten Fahrzeugen und Stammtische organisieren sowie Reparaturratschläge erteilen. Jeder Velosolex-Besitzer versteht sich zugleich als Hobby-Mechaniker aus Leidenschaft, der sich in etwa so artikuliert: „Jede Schraube ist speziell und der Motor derart sensibel, dass er sogar aufs Wetter reagiert.“ Die deutsche Velosolex-IG definiert sich als „lockere Gemeinschaft ohne Strukturen“, vertreibt seit 2011 ein Informationsblatt für Mitglieder mit dem Titel Nasenwärmer und kommt jährlich auf drei Ausgaben. Artikel, Tipps und Blogs machen den Velosolex zur Lebensform, wenn es dort heißt: „Nach dem Abitur ging es mit dem Velosolex nach Paris (wohin sonst?) und seitdem hat mich dieses liebenswürdige Fahrzeug nie mehr losgelassen.“ Ein anderer Autor sorgt sich um „die Pflege der Velosolex-Kultur“ und schreibt über eine „1.000 Kilometer lange Reise“, die nur dreieinhalb Tage gedauert habe. Besonders aktiv sind die Fans in der Schweiz. In Waldenburg unweit von Basel gibt es ein Velosolex-Museum und in der Gegend von Biel im Kanton Bern findet jährlich ein Velosolex-Rennen statt, bei dem so lange gefahren wird, bis der Tank leer ist, was mehr als sechs Stunden dauert. Zwei Mitglieder des Solex Club Ostschweiz berichten von einer sechseinhalb Tage dauernden und gut 600 Kilometer langen Reise mit Velosolex vom Bodensee nach Paris, wofür genau sieben Liter Benzin verbraucht worden seien.

In Berlin kann man seit diesem Frühjahr einen Velosolex mieten, für eine Stadtrundfahrt unter Aufsicht, vorwiegend durch Tempo-30-Zonen. Und die „Mofa- und Mopedfreunde aus Duisburg“ haben ihren traditionell am 3. Oktober stattfindenden „Instandsetzungstag“ wegen des „Tages der deutschen Einheit“ umgewidmet und starten jetzt immer zur „ganztägigen Ausfahrt“. Zu Saisonbeginn im März lädt der Club zur Mopedweihe nach Mönchengladbach, wo „Diakon Peter Fahrzeuge und Fahrer fachgerecht weiht“.

Welche Beliebtheit das Fahrzeug erreicht hatte, konnte man an der Werbung in der 70er Jahren ermessen. Im renommierten französischen Nachrichtenmagazin L’Express schaltete Velosolex seinerzeit eine doppelseitige Anzeige, die kein Bild enthielt, sondern nur eine Geschichte erzählte: In einem fiktiven Land namens Bahercricks gehe das Gerücht um, nachts trieben Monster ihr Unwesen und entführten junge Frauen. Die Tochter des Bürgermeisters ging deshalb auf die Jagd nach den Monstern, traf eine finstere Gestalt und fiel in Ohnmacht. Als das Mädchen – nackt – zu sich kam, stand es vor Graf von B., den zwei Gesellen begleiteten, die der Graf als seine „Velosolex“ vorstellte. Er setzte dann das Mädchen auf einen und sich selbst auf den anderen Velosolex. Gemeinsam durchquerten sie das fürchterliche Land. Moral der Geschichte: „Seither“, so erzähle man sich in jener Gegend, „sieht man in stürmischen Nächten zwei Lichter um die Bergspitzen kreisen. Das sind der Graf und sein Liebchen, die auf ihren infernalischen Tieren durchs Gebirge reiten.“

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