Für Europa endet der Zweite Weltkrieg im Mai 1945, nicht aber für Frankreich. Erst 1962 kommt es zum Friedensschluss im Algerienkrieg, dessen Vorzeichen bereits am 8. Mai 1945 mit dem Aufstand in der Stadt Sétif zu sehen sind. Geht man von 1939 aus, dann herrschen für Frankreich nicht sechs, sondern 23 Jahre Krieg.
Nach dem Aufruhr in Sétif regiert die Kolonialmacht, die Algerien 1830 erobert hat, mit harter Hand: Das Besatzungsregime wird verlängert, obwohl General de Gaulle den Kolonien in der Rede von Brazzaville am 30. Januar 1944 „Reformen“ und eine „Assoziation“ mit dem Mutterland versprochen hat. Einen sich abzeichnenden Erfolg des Mouvement pour le Triomphe des Libertés Démocratiques (MTLD) von Messali Hadj bei der Wahl zur Assemblée Algérienne verhindern die Kolonialbehörden im April 1948 durch massive Wahlfälschung, sodass die Vertreter von einer Million Franzosen in der Kammer eine Mehrheit über die Abgeordneten der gut neun Millionen Algerier behalten. Umso mehr brodelt es nach dieser Manipulation, das nordafrikanische Land wird vorerst nicht mehr zur Ruhe kommen.
Im März 1954 spaltet sich der Comité Révolutionnaire pour l’Unité et l’Action (CRUA) vom MTLD ab und führt eine kleine Elite, die in den bewaffneten Kampf zieht. Bereits ein halbes Jahr später löst sich der CRUA auf und wird neu gegründet als Front de Libération Nationale (FLN) mit einem militärischen Flügel, der sich Armée de Libération Nationale (ALN) nennt. Anfangs verfügen beide Gruppen zusammen über kaum 1.000 Mitglieder und profitieren davon, dass Frankreich im Sommer 1954 damit beschäftigt ist, die Niederlage seiner Kolonialtruppen im nordvietnamesischen Dien Bien Phu zu verkraften und die Genfer Indochinakonferenz durchzustehen. Außerdem ist soeben die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gescheitert.
Vom Aufruhr zum Befreiungskrieg
Umso mehr fühlen sich Mutterland und Kolonie überrascht, als 30 algerische Städte in der Nacht zum 1. November 1954 – dem katholischen Festtag Allerheiligen – von heftigen Bombenexplosionen erschüttert werden – kein Vergleich mit dem Aufstand von Sétif im Jahr 1945. Nun geht der lange schwelende Aufruhr in einen Befreiungskrieg über, den das offizielle Frankreich „die Rebellion“ nennt. Die werde mit militärischen Mitteln „befriedet“ (pacifiée), heißt es in Paris, und zwar umgehend. Was sich bald als Illusion erweisen soll.
Seinerzeit regiert Premier Pierre Mendès France mit einer großen Koalition, die von der rechten Mitte bis zu den Sozialisten reicht. Dem linksliberalen Republikaner wird schnell klar, dass die „Algerienfrage“ durch „eine Politik der Entspannung und Reformen“ gelöst oder durch „eine Politik der Repression und der Gewalt“ verschärft werden kann. Nachdem er das am 3. Februar 1955 öffentlich gesagt hat, wird er zwei Tage später gestürzt. Sein Abschiedswort – „es hat etwas begonnen, das sich nicht mehr aufhalten lässt“ – soll sich auf furchtbare Weise bewahrheiten. Zunächst aber folgen auf das Kabinett Mendès France fünf Regierungen in drei Jahren – die Agonie der IV. Republik hat begonnen. Sie ist unter anderem dadurch geprägt, dass Frankreich seine in Algerien stationierten Truppen laufend erhöhen muss – von zunächst 50.000 Mann im Herbst 1954 auf 450.000 im Dezember 1957.
Die Armee terrorisiert die Zivilbevölkerung mit ratissages (Durchkämmungsaktionen), während FLN und ALN Polizisten und französische Zivilisten bei Attentaten in Algier oder Oran töten. Eine Verhandlungslösung rückt bei solcherart Eskalation in weite Ferne. Die Befreiungsfront ruft auf zur „Generalisierung des Terrorismus“. Polizei und Armee antworten mit „Spezialbefragungen“, sprich: mit brutaler Folter.
Schon im März 1955 erhält der damalige Innenminister François Mitterrand den Wuillaume-Report, der die teils barbarischen Folterpraktiken beim Namen nennt. Doch bleibt das ebenso folgenlos wie der Rücktritt von General Pâris de Bollardière, der damit gegen jede Art von Misshandlung protestieren will. Nachdem General Jacques Massu am 7. Januar 1957 das Kommando über Kolonialheer und Geheimpolizei übernommen hat, wird die Folter in der „Schlacht um Algier“ zur alltäglichen Praxis. Pariser Intellektuelle von Jean-Paul Sartre über Jean Cocteau bis François Mauriac verwahren sich gegen derartigen Zivilisationsbruch. Feldgeistliche beruhigen indes das Gewissen der Soldaten: „Jemanden leiden zu lassen, heißt nicht ‚foltern‘, solange man keine andere Wahl hat und solange der Schmerz dem Ziel, das man erreichen muss, angemessen ist.“ Hinter der Zahl von über 3.000 „Verschollenen“ verstecken sich gemarterte und anschließend verscharrte Algerier, darunter mehrere Dutzend Frauen.
Die politische wie militärische Führung der IV. Republik steuert in eine Krise, die sich im Mai 1958 zuspitzt. Schon vor der Wahl des verhandlungsbereiten Pierre Pflimlin zum Regierungschef spricht General Raoul Salan, Oberkommandierender in Algier, öffentlich von „Gewissenskonflikten in der Armee“, falls die Regierung mit dem FLN zu verhandeln gedenke. Am 13. Mai 1958 reißt in Algier ein Comité de Salut Public die Macht an sich und besetzt den Gouverneurssitz. Unberührt von diesem Gewaltstreich zieht General de Gaulle in aller Ruhe im Hintergrund die Fäden, die zur „legalen“ Verabschiedung der IV. und zur V. Republik führten. Er distanziert sich von seinem Alterssitz aus nicht von den Putsch-Militärs, sodass die Regierung in Paris kapituliert und ausgerechnet General Salan mit Sondervollmachten ausstattet.
„Ich habe euch verstanden!“
Damit wird der Ruf nach de Gaulle immer lauter. Als „erster Widerstandskämpfer“ – 1940 gegen Hitler und Pétain – will er 1958 die Macht aber nicht aus den Händen von putschbereiten Generälen empfangen. Vom Staatspräsidenten als „Erlauchtester der Franzosen“ gebeten, zwingt de Gaulle Pflimlin zum Amtsverzicht und kandidiert selbst als Regierungschef – freilich zu seinen Bedingungen: Er verlangt Sondervollmachten für Algerien, ein vorerst suspendiertes Parlament und eine neue Verfassung. Schließlich wählt die Nationalversammlung den General am 1. Juni 1958 mit 329 : 224 Stimmen zum Regierungschef. Die IV. Republik ist Geschichte.
In Algier triumphieren Militärs und Algerienfranzosen. Sie glauben sich als Sieger, umso mehr, als de Gaulle sie mit den Worten begrüßt: „Ich habe euch verstanden!“ Bereits im September wird die für den General maßgeschneiderte Magna Carta der V. Republik in einem Referendum mit 80 Prozent Zustimmung angenommen. De Gaulle betrachtet das als Mandat, den Konflikt in Algerien beizulegen. Ein Jahr nach dem Verfassungsvotum bekennt er sich in einer legendären Rundfunk- und Fernsehrede zur Selbstbestimmung (Autodétermination) der Algerier. All jene Militärs, die de Gaulle faktisch an die Macht gebracht haben, fühlen sich betrogen.
So verbarrikadieren sich radikalisierte Algerienfranzosen Anfang 1960 im Universitätsviertel von Algier, geben jedoch bald wieder auf, während bei einem Plebiszit in Frankreich über 75 Prozent für die Selbstbestimmung Algeriens und Verhandlungen mit der algerischen Exilregierung votieren. Am 22. April 1961 greift daraufhin „eine Handvoll pensionierter Generäle“ (de Gaulle) zum letzten Mittel und putscht. Doch bricht die Erhebung schnell zusammen, die Putschgeneräle fliehen, ein Teil geht in den Untergrund und gründet die Organisation de l’Armée Secrète (OAS), die sich in Algerien und Frankreich auf Bombenterror versteift – 726 Anschläge gibt es allein zwischen Mai und Oktober 1961.
Die mit dem FLN ausgehandelten und am 18. März 1962 unterzeichneten Verträge von Évian erlauben es, diesen Kolonialkrieg endlich zu beenden und Algerien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Bis dahin sind 150.000 Algerier und 60.000 bis 120.000 „Harkis“ – Algerier, die in der französischen Armee gedient haben – getötet worden. Frankreich selbst beklagt mehr als 30.000 Gefallene und muss eine Million Pieds-Noirs (Algerienfranzosen) aufnehmen, die ins Mutterland fliehen.
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