Zeitgeschichte Die Münchner Künstlergruppe SPUR liebt revolutionäre Romantik, will „Nervenruh! Keine Experimente!“ und stößt zur „Situationistischen Internationale“ hinzu
Mit dem Slogan „Keine Experimente! Konrad Adenauer!“ gewannen CDU und CSU bei der Bundestagswahl im Herbst 1957 das erste und einzige Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine absolute Mehrheit. Sie erhielten 50,2 Prozent der Stimmen und gewannen damit 277 der 519 Sitze im Parlament. Ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Slogan und dem Wahlergebnis ist nicht belegbar. Wie beliebt der Slogan war, belegt seine Verballhornung. Am 1. Januar 1958 veröffentlichte die Münchner Künstlergruppe SPUR ihr Manifest mit dem Titel Nervenruh! Keine Experimente! In diesem Ensemble vereinigten sich der Bildhauer Lothar Fischer (1933-2004), die jungen Maler Heimrad Prem (1934-1978), Helmut Sturm (1932-2008) und Hans Peter Zimmer (1936-1992) wie die beiden bereits arrivierten K
rrivierten Künstler Asger Jorn (1914-1973) und Hans Platschek (1923-2000) – sie alle hatten das Manifest unterzeichnet. Wer sich dessen Lektüre unterzog, dem wurde geraten: „Lassen Sie sich nicht provozieren: Das ist das letzte Gefecht!“Und provokativ war das als Flugblatt in der Galerie van de Loo an der Münchner Maximilianstraße verteilte Manifest allemal, griff es doch die Hauptakteure des Kunstbetriebs frontal an: „Kunsthändler sind Diebe, Farbenhändler sind Räuber, Kunsthistoriker sind Betrüger, Kunstkäufer sind Idioten, Kunstkritiker sind Lustmörder, Sammler sind Pervertierte.“ Daraus wurde der wenig überraschende Schluss gezogen: „Trotzdem geht die Kunst ohne diese notorischen Verbrecher kaputt!“ Mit gleicher Vehemenz kritisierte das Papier die Kunstavantgarde und erklärte den amerikanischen Maler Jackson Pollock ebenso für tot wie den walisischen Lyriker Dylan Thomas und den Schauspieler James Dean. Mit dem Slogan „Kunst ist Leben und Leben ist Kunst!“ skizziert das Manifest die Gegenwelt zum Kunstbetrieb mit einem surrealen Syllogismus: „Kunst ist Aktion. Kunst ist Tod. Also ist Töten Kunst.“ Die Scheinlogik kippte mit dem Verdikt ins Absurde: „Kunst ist Töten. Kunst hat Töten.“ Das Zentrum dieser Gegenwelt besetzt Guy Debord, seinerzeit Kopf der „Situationistischen Internationale“ (SI/1957-1972), den das Manifest als „erfahrensten Memoirenschreiber“ anpreist. Außer Debord wird ebenso der dänische Künstler Asger Jorn hofiert: „Werfen Sie Ihre Bibel ins Feuer! Im März erscheint Pour la forme von Asger Jorn. Das unnötigste Werk der Welt! Ein notwendiges Aufklärungswerk für Kinder, Erwachsene und Dienstpersonal.“Im Unterschied zum Münchner Manifest, das sich nur mit dem Kunstbetrieb beschäftigte, stand für die SI im Schlüsseljahr 1958 die französische Politik im Zentrum. Die IV. Republik lag im Koma. Am 15. Mai 1958 stürmten Algerienfranzosen das kaum bewachte Gouverneursgebäude in Algier. General Jacques Massu bildete staatsstreichartig einen Wohlfahrtsausschuss. Und weil sich Politiker und Parteien der IV. Republik in eine Sackgasse manövriert hatten, wurde am 1. Juni 1958 Charles de Gaulle Ministerpräsident. Drei Tage nach seiner Wahl beruhigte der General die aufgebrachten Algerienfranzosen mit der Floskel: „Ich habe euch verstanden.“ Und indem er in Algier ein „französisches Algerien“ versprach. Nach der Annahme der von de Gaulle verlangten und mitgeschriebenen Präsidialverfassung durch einen Volksentscheid im September wurde der Retter vor Chaos und Rebellion am 21. Dezember zum ersten Präsidenten der V. Republik gewählt. Guy Debords SI deutete die dramatischen Entwicklungen als „Liquidierung der Demokratie“ und „Triumph einer faschistischen Autorität“.Für die Münchner Künstlergruppe SPUR dagegen war Frankreich weit weg. Ihre Aufnahme in die SI verdankte sie nicht der politischen Nähe zu Debord, auch nicht ihrem apolitischen Manifest vom 1. Januar, sondern einer Aktion im Frühjahr 1959. Für die Ausstellung Extremisten – Realisten kündigte SPUR Max Bense (1910-1990) – den damals in Sachen Kunst tonangebenden Professor – als Redner an. Als die Veranstaltung begann, wurde dem zahlreich erschienenen Publikum mitgeteilt, der berühmte Professor sei leider verhindert, habe aber seinen Vortrag per Tonband übermittelt. Zwei Tage später wunderte sich Bense, als er in der Süddeutschen Zeitung las, er hätte in München einen Vortrag gehalten. Zunächst erwog er eine Klage gegen SPUR, unterließ diese aber, als er erfuhr, die Künstler hätten aus seinen Büchern, Interviews und Aufsätzen mit Hilfe der Technik ein „Gesamtkunstwerk“ gebastelt, das beim Publikum stärkere Beachtung gefunden habe als ein Vortrag Martin Heideggers am gleichen Abend im Münchner Völkerkundemuseum.„Revolutionäre Romantiker“Die subversive Aktion von SPUR passte zu Debords Theorie und zur Praxis kleiner Gruppen von europäischen Intellektuellen und Künstlern, die sich 1957 zur SI zusammengeschlossen hatten. Zu deren zweiter Konferenz im April 1959 kamen ganze 13 Delegierte, die meisten „ohne Geld“, nach München, wo sie vier Tage (und Nächte) Konzepte über Kunst und Leben in Übereinstimmung zu bringen suchten sowie über freies, gleichberechtigtes, kreatives und selbstbestimmtes Arbeiten debattierten. Im Rahmen dieser Konferenz wurde die Gruppe SPUR als deutsche Sektion in die SI aufgenommen.Freilich war das Verhältnis zwischen den deutschen Künstlern und Debord nicht spannungsfrei. Zwar bekannten sich alle gemeinsam zur Überwindung beziehungsweise zum „Absterben der individuellen Künste“. Auch wurde der Übergang zu kollektiven Aktionen und experimentellen Verhaltensweisen wie dem „Umherschweifen“ (dérive) – sprich: dem nicht länger ziel- oder zweckorientierten „Durchqueren abwechslungsreicher Umgebungen und Milieus“ – proklamiert. Zudem vertraten die deutschen Künstler wie Debord die Konstruktion von Ganzheitlichkeit und die „Zweckentfremdung“ (détournement) alles Bestehenden – aber im Unterschied zu Debord verstanden sie sich nach wie vor als Künstler und sagten: „Die Malerei ist für uns ein Experimentierfeld der zukünftigen Kultur“ und nicht nur ein „taktisches Mittel zur Provokation der Gesellschaft oder zum Geldverdienen“.Faktisch finanzierte der erfolgreiche Künstler Asger Jorn die Münchner Konferenz inklusive der langen Schlusssitzung, bei der ein von der italienischen Sektion (bestehend aus der Familie Pinot-Gallizio: Vater, Mutter, Sohn) kreierter „experimenteller Drink“ serviert wurde, bevor man „spät in der Nacht zu klassischen Getränken“ überging, wie das Konferenzprotokoll festhielt.Hans Platschek, einer der Unterzeichner des Manifests vom Januar 1958, wurde zur Münchner Konferenz gar erst nicht eingeladen, weil er in einer „reaktionären Schweizer Zeitschrift“ einen Artikel veröffentlicht hatte. Unmittelbar nach der Konferenz brachte SPUR am 21. April 1959 das zweite Manifest heraus, das in seiner verbalen Kraftmeierei wenig zu tun hat mit Debords Theorie der „Zweckentfremdung“ als Gesellschafts- und Sprachkritik. Das Manifest beschwor „die Erneuerung der Welt jenseits von Demokratie und Kommunismus“. Weiter heißt es: „Begriffe wie Kultur, Wahrheit, Ewigkeit interessieren uns Künstler nicht, wir müssen unser Leben fristen. (…) Wer objektiv sein will, ist einseitig, wer einseitig ist, ist pedantisch und langweilig. Wir sind umfassend. (…) Jetzt ist die kitschige Generation an der Reihe. Wir fordern den Kitsch, den Dreck, den Urschlamm, die Wüste. Wir fordern den Irrtum. Der Irrtum ist die herrlichste Fähigkeit des Menschen! Wozu ist der Mensch da? Den vergangenen ihm nicht mehr gemäßen Irrtümern einen neuen Irrtum hinzuzufügen.“Die SPUR-Künstler verstanden sich als „revolutionäre Romantiker“, die ihre Bedeutung und ihren Erfolg am Ausmaß des Scheiterns maßen, das sie als „Voraussetzung jeder schöpferischen Selbstverwirklichung“ betrachteten. Ein Jahr nach diesem hybriden Manifest, das einen „kulturellen Putsch“ ausrief, schritt Debord im Alleingang zur „Liquidierung der lächerlichen Gruppe SPUR“.
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