Für Filmhistoriker liegen die Dinge komplizierter. Zwar kommt Sergio Leones Spielfilm Per un pugno di dollari tatsächlich vor gut 50 Jahren in die Kinos der damaligen Bundesrepublik, aber dann hat es mit den vermeintlichen Klarheiten bereits ein Ende. Der Streifen wirkt fast wie ein Plagiat des japanischen Vorbildes Yojimbo, der Leibwächter von Akira Kurosawa, gedreht 1961. Es gab nicht nur Vorläufer und Frühformen des Genres, umstritten ist obendrein, was überhaupt einen Italowestern ausmacht im Unterschied zum wesentlich früher erfundenen amerikanischen Klassiker.
Jene Gattung berief sich auf die Legenden von einer Ausbreitung der Vereinigten Staaten von „Küste zu Küste“, wie sie in wöchentlich erscheinenden Romanheftchen bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihr Publikum erreichten. Ab 1883 tingelten überdies Zirkusunternehmer mit Wildwestshows zuerst durch Amerika und ab 1887/88 auch durch Europa. In den berühmtesten dieser Spektakel spielten der Büffeljäger William Frederick Cody alias Buffalo Bill (1846–1917), der Sioux-Häuptling Sitting Bull (1834–1890), der Apachen-Häuptling Geronimo (1829–1909) sowie Frank James mit, der Bruder des legendären Banditen Jesse James.
Am 18. April 1894 dann präsentierte Thomas Alva Edison in New York seinen Kinematographen mit knapp 60 Sekunden dauernden Filmen über tanzende Indianer, schießende Cowboys und Buffalo Bill. Fast gleichzeitig mit dem Ende der Eroberung des amerikanischen Westens kamen bereits die Märchen und Mythen, Wunschbilder und Projektionen darüber in Umlauf – nicht in den ersten Kinos, die gab es erst nach 1905, sondern auf Jahrmärkten. Der erste Film, der unter dem Titel The Great Robery („Der große Raub“) auf 250 Metern Zelluloid mit 14 Einstellungen eine ganze Geschichte erzählt, wurde 1903 gezeigt. Noch vor dem Ersten Weltkrieg bildeten sich alle westerntypischen Muster vom ewigen Kampf zwischen Good Man und Bad Man bis zum Schurken mit dem weichen Herzen heraus. Der Cowboythriller mauserte sich als Format zur treibenden Kraft der US-Filmindustrie.
„Über-Western“
Deren Hochkonjunktur dauerte zwar bis nach dem Zweiten Weltkrieg, doch schien der Western in den fünfziger Jahren nur mehr ein verschlissenes Genre zu sein, wofür es zwei ganz unterschiedliche Gründe gab. Zum einen machte das Fernsehen mit der preiswerten Westernserie dem Kinowestern Konkurrenz – wurden 1950 noch 130 Kinofilme dieser Kategorie gedreht, waren es zehn Jahre später ganze 28. Zum anderen zeigte sich beim Western immer stärker ein Zwiespalt zwischen einer riesigen Zahl von filmästhetisch wertlosem Schrott und einigen grandiosen Werken der Altmeister dieser Gattung, von John Ford über Howard Hawks und John Sturges bis zu Fred Zinnemann mit dem erstklassigen High Noon („Zwölf Uhr mittags“) aus dem Jahr 1952.
Damit gesellte sich zur finanziellen die künstlerische Krise, denn diese Meisterwerke hatten mit ihren Ansprüchen an einen soziologisch, moralisch und psychologisch unterfütterten Gang der Handlung absolut nichts mehr zu tun mit den platten Narrativen von Heroen- und Banditentum. Der französische Filmkritiker André Bazin nannte die großen Werke von John Sturges oder Fred Zinnemann „Über-Western“, die sich gleichsam schämten, dem trivialen Genre anzugehören. Er deutete dies als Symptom für die Erschöpfung des Formats, worüber man sich nicht wundern dürfe: Die alten Legenden seien plattgewalzt und buchstäblich zu Tode geritten. Obendrein kamen die berühmten Filmregisseure und Drehbuchautoren in ein Alter, in dem von ihnen keine Erneuerung des Genres mehr zu erwarten war.
Es wäre jedoch falsch zu glauben, der Italowestern hätte diese ästhetische Lücke sofort gefüllt und der Branche einen lange währenden finanziellen Engpass erspart. Bevor dieser Western-Verschnitt auf die Leinwand kam, machte zunächst eine deutsche Version des Westerns Furore – auch in ökonomischer Hinsicht. Ab 1962 ließ der Produzent Horst Wendlandt 17 Karl-May-Filme in Grobničko polje oder an den Plitvicer Seen in Jugoslawien produzieren, die das Publikum massenweise in die Kinos lockten.
Auf diesen Erfolg mit traditionellen Westernlegenden antworteten italienische wie spanische Produzenten und ihre Regisseure Sergio Leone (1929–1989) und Sergio Corbucci (1927–1990) mit den Filmen, die man fortan auch Spaghettiwestern nannte. Dazu kam es, nachdem die Zeitschrift Life Corbucci mit einem Bart aus Spaghetti karikiert hatte. Das über 700 Seiten starke Dizionario del Western all’italiana (2007) von Marco Giusti und die ebenso umfangreiche Dissertation von Matthias Bürgel unter dem Titel Die literarischen, künstlerischen und kulturellen Quellen des Italowesterns (2011) zerstören die vielen Legenden, die sich oberflächliche Filmkritiker über Quellen und Motive von Machern der Italowestern bastelten.
Makabre Gags und spektakuläre Provokationen
Zwar unterscheiden sich traditionelle US-Western tatsächlich vom Italoformat, allerdings erscheint es völlig abwegig, dieses als Kritik und Korrektiv zum affirmativ-harmonisierten Geschichtsbild des Hollywoodmusters zu sehen. Nach dieser Legende sollen sich Italowestern durch ein höheres Maß an Realismus und einen direkteren Bezug zu den historisch-politischen Momenten im amerikanischen Drang nach Westen auszeichnen. Doch das sind nachträglich in diese Produktionen hineingedeutete Filmaussagen. Vor allem Clint Eastwood – Leones Hauptdarsteller – entzog den hybriden Spekulationen von Rezensenten, Leone zeige authentische US-Geschichte, den Boden, indem er sagte: „Tatsächlich weiß Leone nichts über die Geschichte des Westens.“
Noch deutlicher werden dessen Drehbuchautoren Luciano Vincenzoni und Duccio Tessari. Sie teilen mit: „Leone wusste noch nicht einmal, ob Italien eine Monarchie oder eine Republik war!“ Das Zitat in Leones letztem Western Giù la testa („Todesmelodie“, 1971) – „Die Revolution ist kein Festmahl, die Revolution ist ein Gewaltakt“ (Mao Zedong) – ist nur Staffage und konformistische Verbeugung vor dem einst grassierenden Campus-Maoismus, der seine Fantasien bei Gewaltexzessen im Film auslebte oder durch den Khmer-Sozialismus Pol Pots in Kambodscha bedient sah. Leone und Corbucci sahen sich selbst in „bewusster und direkter Kontinuität zum Modell des Hollywoodwesterns“ (Matthias Bürgel), was nicht ausschloss, dem Genre durch allerlei Accessoires, makabre Gags und spektakuläre Provokationen ein paar publikumswirksame Facetten beizugeben. Gerade in dieser Hinsicht profitierten die Italowestern von einem Parallelboom der James-Bond-Filme.
Dies gilt für den unkonventionellen Einsatz von Waffen. Sergio Corbuccis Django zieht in einem Sarg ein Maschinengewehr hinter sich her, mit dem er seine Feinde niedermäht – wie auch für die ostentative Nonchalance, mit der im Minutentakt Konflikte „gelöst“ werden. Die Dramaturgie des Italowesterns folgt über weite Strecken dem Bonmot: „Gott hat die Menschen gleich gemacht, mein Colt macht sie ungleich.“ Gelegentliche Versuche von Leone und Corbucci, sich als politische Autoren zu profilieren, waren insofern mehr Anbiederungen an die politisierte Jugend von 1968 oder dienten der Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf, Gewalt ästhetisch zu verharmlosen.
Der ungeheure Erfolg des Italowesterns – allein 1967/68 wurden 80 Filme gedreht – rief schnell auch US-amerikanische Produzenten auf den Plan, die im reanimierten Genre eine Chance witterten und dafür Millionen von Dollar investierten. Die modische Welle der Italowestern ebbte nach 1970 trotzdem ab. Sie wurde abgelöst durch die lauten Klamaukwestern Enzo Barbonis (1922–2002) mit Bud Spencer und Terence Hill. Nur den „Generation-Golf“-Poeten und ihrem feuilleton-soziologischen Zugriff gerieten diese biederen Prügeleien zur „Kino-Grundschulung“, wie es Florian Illies formuliert hat.
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