Das Bild Otto von Bismarcks, der am 1. April vor 200 Jahren geboren wurde, war viele Jahrzehnte lang stabil auf Verherrlichung und Heroisierung getrimmt. Die erste Bismarck-Biografie erschien noch zu Lebzeiten des Kanzlers 1894 und stammte vom völlig zu Recht vergessenen Hans Blum, einem Sohn des zu Unrecht vergessenen 48er-Revolutionärs Robert Blum, der am 9. November 1848 in Wien hingerichtet wurde. In der letzten großen Bismarck-Biografie Lothar Galls aus dem Jahr 1980 wurde der pathetisch-heroische Jargon dann endlich auf Nüchternheit umgestellt. Galls Fazit: „Nichts, gar nichts ist von dem geblieben, was Bismarck“ von 1862 bis 1890 politisch erreicht hatte.
Die Stimmung war allerdings schon vorher gekippt. Dabei fand die Demontage des Bismarck-Mythos auf
Mythos auf zwei Ebenen statt – in der Geschichtswissenschaft und im Museum, das nicht länger nur eine Kuriositäten- und Devotionaliensammlung sein wollte. Die Demontage begann mit einem Bruch in der Geschichtswissenschaft. 1969 erschien zunächst die Habilitationsschrift des Historikers Hans-Ulrich Wehler Bismarck und der Imperialismus, und vier Jahre später dann Das Deutsche Kaiserreichs von 1871 – 1918. In beiden Büchern ging es nicht mehr um professorale Schrullen wie die „Dämonie des Machtwillens“ und der „staatsmännischen Besonnenheit“ (Gerhard Ritter), sondern um „Herrschaftsstabilisierung und Herrschaftslegitimierung“ und „staatlich regulierten Kapitalismus“ (Wehler) im Kaiserreich.Der konservative Flügel der Historikerzunft heulte auf und versuchte Begriffe wie den „irreduzierbaren Machtwillen“ des Kanzlers nochmals zu retten, konnte aber selbst schon nicht mehr darauf verzichten, auf den „Klassencharakter des Kaiserreichs“ hinzuweisen. Der Paradigmenwechsel war vollzogen: Die Aura der Geschichte „großer Männer“ verblasste, die sozialen Realitäten kamen endlich zu ihrem Recht. Der Historismus wollte alles historisch erklären – mit dem dürftigen methodischen Trick, wonach das zeitlich Spätere kausal dem zeitlich Früheren entspringe. Mit dieser Hexerei war es vorbei. Das hatte auch mit der Revolte von 1968 zu tun. Schüler und Studenten lasen Autoren wie Wehler, Hans Rosenberg, Jürgen Kocka und Eckart Kehr und widersprachen den Lehrern und der intellektuellen Dürftigkeit des Historismus.Die zweite Ebene, auf der die Demontage des Bismarck-Mythos stattfand, war das Museum, genauer: das Historische Museum in Frankfurt. Es zog 1972 in einen Neubau und war das erste historische Museum mit einer demokratischen, historischen und kritischen Konzeption. Der damalige Kulturdezernent Hilmar Hoffman, der Museumsdirektor Hans Stubenvoll und ein junges Kuratorenteam einigten sich auf das Konzept eines „Museums für die demokratische Gesellschaft“. Basis sollte, ganz im Sinne August Wehlers, eine sich „als angewandte Sozialwissenschaft verstehende Historie“ sein.Bereits die Eröffnung der Dauerausstellung am 13. Oktober 1972 führte zu einem Skandal. Das Museum verstand sich Bestandteil eines modernen Bildungssystems, in dem auch das Lernen nicht zu kurz kommen sollte. Man wollte nicht nur Dinge und Dokumente zeigen, sondern auch Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge vermitteln. Die FAZ begrüßte das neue Museum als „offenen didaktischen Betrieb“ – trotz einiger Einwände gegen das aufklärerische Konzept.Da die Eröffnung in die Zeit der Bundestagswahl fiel, entdeckte die CDU ein Wahlkampfthema. Der hessische Landsvorsitzende Alfred Dregger, stramm rechts und später lange Fraktionsvorsitzender von CDU/CSU im Bundestag, witterte „Systemveränderungsthesen“. Der Bankier, Publizist und Parteifreund Philipp Freiherr von Bethmann monierte die „beleidigende Primitivität der Begleittexte“. Universitätshistoriker warnten pauschal vor einem „naiven Klassenbegriff“. Der Historiker Paul Kluke sah in der Ausstellung gar „einen kollektiven Angriff einer von der Stadt Frankfurt unterhaltenen und aus öffentlichen Mitteln finanzierten Institution auf die Grundlagen unserer Existenz“. Es war eine Zeit, in der ein Präsident der Industrie- und Handelskammer in einem offenen Brief das Museum noch darauf hinweisen konnte, „dass dieser von Marx geprägte Begriff“ (des Kapitalismus red.) „von der Geschichte längst überholt ist, dass er nicht zur Kennzeichnung unserer Gesellschaftsordnung verwendet werden kann, weil weder Form noch Inhalt unserer demokratischen Ordnung und unserer sozialen Marktwirtschaft diesem Begriff entsprechen“.Bismarck und sein SchnapsTrotz dieser Ermahnungen kehrte keine Ruhe ein, im Gegenteil. Und das hatte mit dreierlei zu tun – mit der Eröffnung der Abteilung des 19. Jahrhunderts, mit Bismarck und Schnaps. Das Museum gewann den Historiker Immanuel Geiss als Berater, einen Experten für die Geschichte des Kaiserreichs und Ersten Weltkrieges. Geiss verfasste einen Text, der erneut zum Eklat führte. Darin hieß es: „Als Rittergut-Besitzer betrieb Bismarck, wie die meisten seiner Standesgenossen, auch Schnapsbrennereien. Der billige Kartoffelschnaps wurde meist als gesundheitsschädlicher Fusel über Hamburg nach Westafrika ausgeführt; was u. a. zur Begründung deutscher Kolonialinteressen in Westafrika und zur annähernden Liquidität der sonst mit dem Bankrott bedrohten Rittergutsbesitzer führte. Mit Schutzzollgesetzen und Kolonialpolitik trug Bismarck den wachsenden Interessen von Landwirtschaft und Industrie Rechnung, abgesichert durch flankierende Maßnahmen wie das Sozialistengesetz von 1878 und die Sozialgesetzgebung ab 1881.“ Bismarck als Schnapsbrenner, der wissentlich afrikanische Konsumenten vergiftet – das war zu viel. So wollten viele Konservative ihren Reichsgründer und „Urgroßvater“, so der Historiker Thomas Nipperdey, denn doch nicht dargestellt sehen.Gut 20 Jahre später liest man bei Nipperdey in seiner Deutschen Geschichte wörtlich von der „Begünstigung der landwirtschaftlichen Schnapsbrenner“, zu denen Bismarck gehörte. So hatte die Demontage des Bismarck-Mythos offenbar auch auf die Konservativen durchgeschlagen. Die Kampagne gegen das neue Historische Museum war längst eingeschlafen. Die Konzeption des „demokratischen Museums“ als Ort historischer Aufklärung hatte sich durchgesetzt.Das Nachspiel: Auf Nachfragen zu seinem Museumstext über Bismarck als Schnapsbrenner erklärte Imanuel Geiss später seine Sätze zur „akademischen Jugendsünde“ (er war damals über 42 Jahre alt) und delegierte einen Teil der Verantwortung für den Text an eine „uralte, inzwischen vielleicht auch suspekte Quelle. Heute würde ich so etwas nicht mehr schreiben … Es ist ohnehin müßig, als Historiker nachträglich Kritik an einer historischen Gestalt zu üben, denn das wäre nachtarockende Parteilichkeit zu etwas, was ohnehin nicht mehr zu ändern ist.“Die Fakten: Mit der „suspekten Quelle“, die Geiss erwähnt, ist Friedrich Engels gemeint. Nur: In dem betreffenden Text kommt Bismarck gar nicht vor. Mit dem doppelten „ohnehin“ in Geiss’ Distanzierung von 2010 verabschiedet sich der Autor von Aufklärung und Kritik. Und wenn am Ende doch nicht auf Engels – worauf beruht dann Geiss’ Text von 1972 über den Schnapsbrenner Bismarck? Die Spur führt zu Wehlers Bismarck-Buch von 1969. Es enthält auf zwei Seiten über Bismarck und Schnaps alles, was Geiss in seinem Museumstext paraphrasiert. Über diesen Text wollte Geiss „heute keinen Lärm mehr machen“. Und dies wohl auch aus einem aparten Grund. Geiss war damals, im Jahr 2010 auf Wehler, schon lange nicht mehr gut zu sprechen. In einem Leserbrief an die FAZ hatte er schon Jahre zuvor mit Wehler und Habermas abgerechnet. Denn denen falle nach dem Historikerstreit (1986) und dem Mauerfall (1989) außer der „Denunziation der Nation“ nichts mehr ein. Wehler und Habermas kann man mit rechten Ressentiments überziehen, aber der Bismarck-Mythos lässt sich auch mit Geiss’ Selbstdemontage nicht mehr retten.