Schriftsteller wie Monika Maron und Reiner Kunze fühlten sich an DDR und Diktatur erinnert, Hans Magnus Enzensberger an die „Mafia“ und an „Metternich“, Matthias Politycki an „Umerziehungsmaßnahmen“. Und welcher Feind stand 1998 ante portas? Die Rechtschreibreform. Der Krieg um sie geht jetzt ins 20. Jahr, weil es echten Kriegern immer schon egal war, ob sie verloren oder gewonnen hatten. So wird uns die FAZ in zehn Jahren an den Dreißigjährigen Krieg um die Rechtschreibung erinnern, wie es Heike Schmoll am 1. August 2018 zum 20. Jahrestag der Einführung dieser Reform tat. Sie war seit dem ersten Tag ganz vorn mit von der Partie beim Widerstand gegen Reform und „Schreibanarchie“. Die stockreaktionäre Schweizer Stiftung für abendländische Gesinnung mit ihrem Präsidenten Robert Nef (den Heike Schmoll den deutschen Lesern in ganz neuer Schreibweise als Robert „Nefin“ vorstellte) verlieh Reiner Kunze für seinen Heldenmut im Kampf gegen die Rechtschreibreform sogar einen Preis.
Der Lyriker Durs Grünbein stieg in die etwas zu großen Stiefel Gottfried Benns, hob an zum Lobgesang auf die Muttersprache und versackte im Metaphernsumpf irgendwo zwischen Goethes Müttern in Faust II und Wildenbruchs Haubenlerche bei seiner Verdammung der Rechtschreibreform: „Man vergreift sich nicht an der Mutter. Man spielt nicht mit dem Körper, der einen gezeugt hat.“
Um Normen für die Rechtschreibung zu gewinnen, gab es immer zwei Wege: Man ernennt eine Behörde und die verordnet, was gilt. So hielt man es in Frankreich und gründete 1635 die Académie française, die nur 58 Jahre brauchte, bis sie 1694 ihr erstes Normenkonvolut in Form des Dictionnaire de l’Académie française herausbrachte. Durch das dezente Wirken einiger heller Köpfe gelangte 1980 erstmals eine Frau – Marguerite Yourcenar – in den Club der unsterblichen Männer. Dank dieses fast ausgewogenen Normierungsverfahrens ist im Französischen bis heute „le professeur“ grammatikalisch männlichen Geschlechts, auch wenn längst Frauen an Universitäten lehren. Und Frau Staatsanwältin ist nach wie vor „Madame le procureur“. Noch 1935 kannte der Dictionnaire weder das Wort „Sozialist“ noch „Sexualität“ noch „Lesbierin“ noch „Lokomotive“. Zudem etikettierte man Tausende von Wörtern aus der Alltagssprache mit dem Zusatz „pop.“ (volkstümlich), „vulg.“ (ordinär) oder „argot“ (Jargon).
Die deutschen Veteraninnen und Veteranen des Feldzugs gegen die Rechtschreibreform ficht derlei nicht an, sie verbuchen flexible, dem Sprachgebrauch und sozialer Entwicklung folgende Änderungen der Schreibpraxis (der zweite und vernünftigere Weg für die Gewinnung von Rechtschreibnormen) als „Sprachmoden“, „Genderismus“ und Abweichung vom „Bewährten“. „Sprachwandel“ ist den Konservativen ein Ärgernis. 1976 war „generieren“ noch ein „bildungssprachliches“ Wort. Das heißt, es zeigte an, dass der Anwender mutmaßlich Akademiker war. Ferner hatte es noch eine „sprachwissenschaftliche“ Bedeutung: „sprachliche Äußerungen in Übereinstimmung mit einem grammatischen Regelsystem bilden“. Heute sind von Talkshow-Gästen über Gebrauchtwagenhändler bis zu Friseurinnen alle am Generieren. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort „fokussieren“. Das bedeutete vor 30 Jahren noch schlicht „optische Linsen ausrichten“. Heute „fokussieren“ Abiturienten, Soziologen und Fußballer, von denen sich einer unsterblich machte, als er die Niederlage seiner Mannschaft damit erklärte, dass der Gegner halt „fokussierter“ gewesen sei.
Die Recken der „bewährten Schreibweise“ interessierte derlei 1998 nicht. Sie predigten lieber mit priesterlichem Eifer den Untergang des Abendlandes, falls sich die Reform der Klein- und Großschreibung durchsetze. Keine Lappalie war ihnen zu trivial und kein Schwachpunkt der Reform zu mickrig, um nicht verbale Granaten abzufeuern. Hinter den FAZ-Redakteuren Heike Schmoll und Hubert Spiegel bliesen die „Sprachkämpfer“ Theodor Ickler, Peter Eisenberg und Horst Haider Munske, unterstützt von fanatisierten Gymnasiallehrern wie Friedrich Denk und Stefan Stirnemann, zum heiligen Krieg gegen die Reformen und gegen die Ketzer, die diese nicht verdammten. Zuletzt meldete sich eine halbe Hundertschaft jenes Berufsstandes zu Wort, der so viel zur Verhunzung der deutschen Sprache beigetragen hat wie kein anderer. Für die Juristenprosa benötigen auch gediegen Gebildete Übersetzungshilfe, weil Juristendeutsch mit Deutsch so viel gemein hat wie die Werkzeuge der Schmiede mit jenen der Chirurgen. Deshalb ist es nur lächerlich, wenn Juraprofessoren befürchteten, die Reform beeinträchtige „Aussagekraft und Ausdrucksvielfalt“ der Schriftsprache.
„Recht haben“ oder „recht haben“
Dann plötzlich kam nach neun Jahren Kampf die Kapitulation, von der die Veteraninnen und Veteranen aber lieber nicht reden. Zum 1. Januar 2007 zog sich das bewährte Schlachtross FAZ aus dem (fast) ewigen Krieg (fast) zurück mit der Erklärung, die Reform größtenteils doch übernehmen zu wollen. Geschlagen aber gab und gibt sich das wild gewordene Häuflein der Aufrechten nicht, denn ihrem Slogan „bewährte Schreibweise“ blieben sie treu, auch wenn sie nie begründen konnten, was „bewährt“ in diesem Kontext bedeutet. Ab sofort galt es, für „die Einheitlichkeit der Rechtschreibung“ weiterzukämpfen. Man blies zum Rückzugsgefecht. Bis ans Ende der Zeiten will die FAZ die „Quäntchen“, „Stängel“ und „Tollpatsche“ genau „numeriert“ und geächtet wissen, denn nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Resümee nach 20 Jahren Kampf: „Das gegenwärtige Regelwerk ist ein Unglück der Sprachgeschichte“ (Heike Schmoll). Natürlich wurden Verstiegenheiten der Reform relativiert („Spagetti“) –, und wer partout bekunden will, dass er zwar Pasta „al dente“ mag, aber italienische Wörter wie „Spaghetti“ doch lieber dilettantisch eindeutscht, darf auch „Spagetti“ schreiben, demnächst vielleicht auch „Rawioli“, „Pitza“ oder „Pnöh“. Das Niveau nach unten ist bei Geschmacksfragen offen.
Aus historischen Gründen gibt es im deutschsprachigen Raum keine Institution, die befugt wäre, zu sagen, wie zu schreiben sei. Die nationalstaatliche Aufspaltung (Deutschland, Österreich, Schweiz) wie der deutsche Kulturföderalismus verhindern das. Und das ist kein Nachteil, sondern eine Chance, solange Wege gefunden werden, Formen der Sprachentwicklung pragmatisch in das Regelwerk einzubauen. Was die demokratische Legitimation betrifft, sind die zwölf Sprachbeobachter des Rechtschreibrates dem fanatisierten Priestertum von philologischen Einzelkämpfern und dem französischen Elitegremium ebenso haushoch überlegen wie bei der linguistischen Kompetenz.
Wer außer den Veteraninnen und Veteranen will noch bestreiten, dass es Zeit war, mit der grammatisch sinnfreien, kinderquälenden Marotte der ss- bzw. ß-Regeln aufzuräumen? Den Schweizern jedenfalls hat es nicht geschadet, dass sie den ß-Firlefanz schon vor über 50 Jahren abschafften, wie den Italienern, dass sie das Griechische „ph“ / „φ“ vor etwa 700 Jahren durch ein „f“ ersetzten: „filosofia“.
Als Kampfobjekt bleibt den Hütern des „Bewährten“ nur noch die Spielwiese der Zusammen-, Getrennt- und Großschreibung. Die Ultras wollen immer noch suggerieren, es gehe um vernünftig Entscheidbares dabei, ob wir „grünlich blau“ oder „grünlichblau“ bzw. „Recht haben“ oder „recht haben“ schreiben. Wo Argumente fehlen, wird die Freigabe der Schreibweise in alter Theologenmanier als Rückfall in den „vorsintflutlichen Zustand“ (Theodor Ickler) beklagt. Für Nicht-Kombattanten erscheint die Rechtschreibreform als Hanswurstiade mit obligater Drehorgel unter dem Titel „Ohne Igel an den Orgeln keine Orgie in Georgien“. Eine veritable FDP-Staatsministerin machte ernsthaft den Vorschlag, eine Volksabstimmung zu veranstalten darüber, ob „daß“ oder „dass“, „3-fach“ oder „3fach“ gelten solle.
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