Die Resultate der Bundestagswahl im Herbst 2005, die Nationalratswahlen in Österreich und jüngst das Votum über das künftige Parlament der Niederlande lassen zwei Trends erkennen. Der erste weist in Richtung großer Koalitionen, die nicht aus Neigung der Parteien füreinander zustande kommen, sondern aus der Verlegenheit, dass es den jeweiligen "großen Volksparteien" verwehrt bleibt, ihre Wunschkoalition zu schließen. Sozialdemokratische wie liberal-konservative Parteien verlieren in Westeuropa zwischenzeitlich so viele Stimmen, dass eine Zweierkoalition mit einem kleineren linken oder rechten Partner nicht mehr möglich ist, sondern nur noch der große Schulterschluss. Der sollte zwar eher Not- und Krisenzeiten vorbehalten sein, macht aber augenblicklich als Dauereinrichtung von sich reden.
Der zweite Trend läuft auf Dreierkoalitionen hinaus. Die SPD zum Beispiel hätte - im Prinzip - die Wahl zwischen zwei Varianten: Einer "Ampel"-Koalition (grün-gelb-rot) oder einer Allianz mit den Grünen und der Linkspartei (rosa-rot-grün). In den Niederlanden müssten sich nach der Wahl vom 22. November gar mindestens vier Parteien zusammenraufen, um mit einer der beiden "Volksparteien" - den Christdemokraten oder Sozialdemokraten - eine Parlamentsmehrheit zu bilden. In Österreich liegen die Verhältnisse nach dem Zerfall der Haider-Partei ähnlich wie in Deutschland. Kommentatoren pflegen das Ganze einen "komplizierten Wahlausgang" zu nennen, da große Koalitionen die Politik lähmen und fragile Dreierkoalitionen Instabilität heraufbeschwören.
Der Versuch, eine solch veränderte Kräftebalance der Parteienvielfalt anzulasten, führt in die demokratietheoretische Sackgasse. Warum verdient es eine bestimmte Anzahl konkurrierender Parteien, als Fehlentwicklung gedeutet zu werden? In den Niederlanden hat der Zuwachs der Socialistische Partij (SP) von sechs auf 16 Prozent - gleiches gilt hierzulande für den sich bei neun Prozent einpegelnden Wähleranteil der Linkspartei - dazu beigetragen, dass neue parlamentarische Kraftfelder entstanden sind. In Österreich bewirken das die Spaltung von Haiders Freiheitlichen und der Erfolg der dortigen Grünen. Dabei finden die Sozialisten in den Niederlanden und in der Bundesrepublik vorzugsweise deshalb Resonanz, weil sie ein vergleichsweise klares Profil zeigen und einigermaßen authentisch auftreten, im Gegensatz zu den immer seifiger werdenden Sozial- und Christdemokraten in ihrem Streit um die mittigste Mitte. Diese Mitte-Parteien haben gegen die Konkurrenten von links (wie von rechts) keine wirklichen Argumente und schon gar kein Gegenprogramm parat, sondern nur das wohlfeile Totschlagargument, alles jenseits des volksparteilichen Sermons sei "Populismus". Die entscheidende Ursache für die sich wandelnde Kräftekonstellation liegt jedoch weder im Aufstieg der Linken noch der Grünen, sie ist dem Umstand geschuldet, dass "Volksparteien" längst nicht mehr dem Anspruch gerecht werden, "das Volk" mit seinen Interessen und Mentalitäten in einer eher sozialdemokratischen und eher liberal-konservativen Partei bündeln zu können. Das gilt zunächst einmal in quantitativer Hinsicht. Wenn sich die "Volksparteien" mit einer Wahlquote irgendwo zwischen 25 und 35 Prozent begnügen müssen, kann ihnen beim besten Willen nicht mehr das Label "Volkspartei" zuerkannt werden. Das Gleiche gilt für die Mitgliedschaft: Der kleine "Automobilclub von Deutschland" (AvD) hat mit seinen 1,3 Millionen Mitgliedern - gegenüber den 13 Millionen des ADAC fast so etwas wie ein Zwerg - immer noch weit mehr Zulauf als die beiden hiesigen "Volksparteien" zusammen. Mag sich der kreuzfidele Klaus Wowereit mit einem 30-Prozent-Ergebnis großspurig als "Wahlsieger" in Berlin inszenieren - es ändert nichts daran, dass die "Partei der Nichtwähler" inzwischen nicht nur bei Kommunal- und Landtagswahlen für sich in Anspruch nehmen kann, gleichermaßen der Spezies "Volkspartei" anzugehören.
Das ist - entgegen der Meinung konservativer Demokratiekritiker - kein Indiz für die Schwäche der Demokratie, sondern für das Versagen der großen Parteien. Mit einer auf Talkshows zugeschnittenen Geschwätzigkeit, programmatischer Profillosigkeit und Konformismus führen sie ihren Kampf um die Mitte. Beide "Volksparteien" hobeln ihre Unterschiede ab, werden damit ununterscheidbar - das Publikum revanchiert sich durch wachsendes Desinteresse.
Den Eiertanz, den die SPD aufführt, um einer Debatte über den CDU-Vorschlag, ältere Arbeitslose nicht dem rigiden Hartz IV-Regime zu unterwerfen, auszuweichen, ist jammervoll. Dieses Theater wird noch überboten von der sozialdemokratischen Absicht, der CDU auf die Leimspur "Investivlöhne" zu folgen. Und gleichzeitig mit dem Deal, der Josef Ackermann für 3,2 Millionen Euro bei der Düsseldorfer Justiz eine weiße Weste erwerben lässt, poltert Edmund Stoiber auf dem CDU-Parteitag in Dresden: "Amerikanische Spitzengehälter für Manager, asiatische Niedriglöhne für die Arbeitnehmer - das wollen wir nicht!" Derlei Phrasen kosten den bayerischen Ministerpräsidenten gar nichts, erweisen sich jedoch durchaus als geeignet, noch mehr Bürger den Nichtwählern zuzutreiben. Angesichts des kaum übersehbaren Zielkonflikts in der CDU zwischen neoliberalem Marktradikalismus und christlicher Soziallehre dreht die Kanzlerin die bekannte Merkel-Volte, das heißt - sie ist gleichzeitig dafür und dagegen: "Mein Credo ist, dass wir nicht die Grundwerte gegeneinander ausspielen", sondern einfach alles aussitzen, was sie vergaß hinzuzufügen. Der "volksparteiliche" Polit-Betrieb entlegitimiert nicht nur sich selbst, er verflacht zusehends und höhlt obendrein die Demokratie aus, die einer Vorstadtschmiere immer ähnlicher wird.
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