Abgesang auf einen Papiertiger

Neue Sozialdemokratie Mit dem Abschied von Gordon Brown aus dem Amt des britischen Premiers verschwindet auch einer der letzten Anhänger des Schröder-Blair-Papiers von der Bildfläche

Der britische Soziologe Anthony Giddens wollte einst Pfadfinder zwischen Neoliberalismus und Sozialdemokratie sein und entdeckte den „Dritten Weg“. Nun ist die verheerende Wahlniederlage von Labour für ihn Anlass, im Wochenmagazin New Statesman Bilanz zu ziehen über 13 Jahre Herrschaft von New Labour unter Blair und Brown. Sein Fazit wirkt streckenweise nüchtern, dann wieder nebulös. „Die Ära von New Labour ist vorbei“, stellt Giddens gleich zu Anfang klar und möchte selbst den Begriff aufgeben. New Labour sei nämlich ganz und gar „tot“. Solcherart Klarheit wird gleich wieder dementiert, wenn Giddens in den banalen Umstand, dass New Labour 13 Jahre regierte, das tröstliche Resultat hineinliest, weder Lionel Jospin in Frankreich noch Gerhard Schröder in Deutschland seien so lange Amtszeiten beschieden gewesen. Gescheitert sind alle drei Versuche!

Champagner-Offensive

Den „Erfolg“ von New Labour rechnet Giddens dem Umstand zu, dass Blair von eindeutig linken Positionen aus gestartet sei und an „linken Zielen“ (Solidarität, Schutz der Schwachen, aktiver Staat) immer festgehalten habe. Nur gab es einen Methodenwechsel, den Giddens pauschal als quasi-automatisches Resultat von „Globalisierung und post-industrieller Entwicklung“ deutet. Angesichts des Schwindens des industriellen Sektors seien Wahlsiege für Labour nur noch möglich, wenn sich die Partei neuen Wählerschichten der Mitte öffne. In der deutschen Version des „Dritten Weges“ – im Schröder-Blair-Papier vom 8. Juni 1999 – wurde die „Neue Mitte“ zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen SPD. Was genau gemeint war, konnten weder New Labour noch Schröder je klären.

Eindeutig war dagegen ihr Abschied von Keynes und Keynesianismus. Blair sprach von einer „neuen Ära der Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen“, von den „Grenzen der Staatsmacht“ und startete eine regelrechte „Champagner-Offensive“ in der britischen Finanzmetropole, um das Wohlwollen von Banken und Investment-Fonds zu gewinnen. Für die Arbeitnehmer hatte New Labour „Reformen“ bei den Sozialausgaben und kleine Steuererleichterungen im Programm. Das Ganze lief unter dem Slogan: „Statt mehr Staat, einen intelligenten Staat!“. In der Außenpolitik schwenkte New Labour auf den Kurs eines angeblich wegen der Globalisierung und der Terror-Gefahr weltpolitisch gebotenen „Interventionismus“ um. Giddens zählt diesen Kurs heute zu den Aktiva in der Bilanz von New Labour, verhehlt aber nicht, dass Blairs Votum für den Irak-Krieg eine „verheerende Entscheidung“ war, die seinem Ruf geschadet habe wie sonst nichts.

Der Begriff als Schwamm

Für die Labour-Zukunft empfiehlt Giddens eine „Neubestimmung der öffentlichen Sphäre“ als Gegengewicht zu Staat und Markt. Das Zauberwort vom „Dritten Weg“ soll ersetzt werden durch den Slogan Mutualism (Wechselseitigkeit), mit dem Defizite des Marktes, was die soziale Verantwortung betrifft, kompensiert werden.

Schwammigkeit im Begrifflichen zeichnete schon das Schröder-Blair-Papier aus, das sich nach elf Jahren stellenweise wie eine Kabarettnummer liest. Hier wurde gleich im zweiten Absatz „das Dogma von Links und Rechts“ beerdigt, so als ob es keine krassen sozialen Interessenkonflikte mehr gäbe. Das Papier stellte der „alten“ Ideologie den „neuen“ Pragmatismus gegenüber. Aber ist nicht der sozialdemokratische Pragmatismus (vom Ja zu den Kriegskrediten 1914 bis zum Krieg gegen Serbien 1999) die konformistischste und anspruchsloseste Form aller Ideologien?

Bei Licht betrachtet, schrieb das Schröder-Blair Papier schon 1999 das Szenario für die heutige Finanzmarktkrise. Damals hieß es: „Die Steuerungsfunktion von Märkten muss durch die Politik ergänzt werden“. Die kapitalfreundliche „Ergänzung“ der Regierung Schröder/Fischer bestand dann darin, dass man die Finanzmärkte total liberalisierte und so Banken, Versicherungen und Hedgefonds Tür und Tor öffnete für ihr kriminelles Treiben. Geradezu als Witz wirkt heute, wie vor zehn Jahren Schröder-Sozialdemokraten in ihrem „Neue Mitte“-Fimmel „alte“ Sozialdemokraten kritisierten: „Flexible Märkte sind ein modernes sozialdemokratisches Ziel. Flexible Märkte müssen mit einer neu definierten Rolle für einen aktiven Staat kombiniert werden. (…) Die Schwächen der Märkte wurden über-, ihre Stärken unterschätzt“. Für diese „Stärken“ der Märkte und das Versagen der Hasardeure unter Bankern und Managern bürgen heute Steuerzahler mit Milliarden, während „moderne Sozialdemokraten“ wie Schröder und Clement und noch modernere Grüne wie Fischer aufs Geldverdienen umgesattelt haben.

Die Agenda 2010 mit dem Herzstück Hartz IV kündigte das Schröder-Blair-Papier mit dem Satz an: „Der Staat soll nicht rudern, sondern steuern, weniger kontrollieren als herausfordern. Problemlösungen müssen vernetzt werden“. Mittlerweile rudert der Staat das Finanzsystem in den Hafen, damit es nicht absäuft, und auch die Hartz-IV-Empfänger rudern unentwegt und bleiben doch chancenlos, je ans rettende Ufer zu gelangen. Aus dem „Sprungbrett in die Eigenverantwortung“ von Schröder und Blair, ist das löchrige Schlauchboot mit dem Namen „Hartz IV“ geworden.

Der „Weg nach vorn für Europas Sozialdemokraten“ erweist sich als politische Sackgasse. „Dritter Weg“ und „Neue Mitte“ sind keine „neue Hoffnung“ mehr, wie es am Schluss des Schröder-Blair-Papiers hieß, sondern für Millionen von Menschen eine bittere Erfahrung und für den Rest eine brutale Drohung.

Rudolf Walther ist freier Autor und lebt in Frankfurt am Main. Sein Hauptinteresse gilt Frankreich und den 68ern.

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