Adieu, Goldschnitt

Organisiertes Wissen Wissen gibt es nicht zum Nulltarif. Anmerkungen zum Ende des gedruckten Brockhaus

Vergangene Woche wurde bekannt, dass die 2005 präsentierte 21. Auflage des Brockhaus die letzte gedruckte sein wird. Nur Ignoranten sprechen von diesem Werk als 30-bändigem Monstrum. Angefangen hat das Jahrhundertunternehmen klein. Friedrich Arnold Brockhaus (1772-1823) kaufte 1808 für 1.800 Thaler das "Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten", das von 1796 an erschien. Bereits von der fünften Auflage (1818/20) verkaufte Brockhaus 32.000 Exemplare. Das Bildungsbürgertum schuf sich mit den Lexika von "Brockhaus", "Meyer", "Pierer" und "Herder" seine Bildungsmonumente - im Guten wie im Bösen. Zwischen 1936 und 1942 erschienen die neun Bände der achten Auflage des braun imprägnierten "Meyer". Dessen erste Auflage (1829-1852) umfasste 46 Bände, war demokratisch inspiriert und hatte eine Auflage von 200.000 Exemplaren! Konversationslexika spiegeln wie wenige kulturelle Großformate Licht und Schatten, Aufklärung und Barbarei.

Woher kommen Konversationslexika? Die des 19.Jahrhunderts sind rein ökonomisch die Erben der Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts. Diese großen Universallexika waren allein von ihrem Umfang, intellektuellen Anspruch und Preis her nicht für ein breites Publikum bestimmt. Darauf schielte jedoch Brockhaus mit seiner schlichten Rechnung, wenigstens die Bildungs- und Besitzbürger sollten ein Lexikon kaufen.

Das ist die kaufmännische Seite. In der Sache sind Konversationslexika die Folge eines konzeptionellen Scheiterns und einer Revolution des Wissens. Im sprichwörtlich enzyklopädischen 18. Jahrhundert wollte man das gesamte Wissen sammeln. Aus diesem Geist umfassender Aufklärung entstanden die großen Enzyklopädien oder Universallexika. Johann Heinrich Zedler benötigte 22 Jahre (1732-1754) für die 68 Bände des "Großen vollständigen Universallexikons aller Wissenschaften und Künste". Als Zedlers "Universallexikon" aktualisiert werden sollte, merkten die Lexikographen bald, dass sich das Wissen viel schneller vermehrte und veränderte, als sie arbeiten konnten. Die "Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste" von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber endete nach 71 Jahren 1889 mit insgesamt 167 Bänden beim Buchstaben P. Das Projekt, alles gültige Wissen aktuell zu bündeln, erwies sich als unausführbar.

Einen Ausweg aus dem Dilemma bildeten Spezial-Enzyklopädien zu nur einem einzigen Wissensgebiet - wie der "Oeconomischen Encyclopädie" (1773-1858), 242 Bände bis zum Buchstaben L. Oder eben Brockhaus´ Konversationslexikon, das nicht mehr alles Wissen sammeln wollte. Aktualität, Objektivität, Selektivität und Präzision sind die Grundanforderungen an jedes Lexikon. Die vier Anforderungen sind jedoch nur schwer miteinander vereinbar. Aktualität kann Objektivität gefährden, Auswahl tangiert Aktualität und Objektivität, Präzision ist mit Objektivitäts- und Auswahlproblemen verknüpft. Lexikographie ist inhaltlich und finanziell ein Jonglierakt mit diesen vier Kugeln sowie mit der Nachfrage des Publikums.

Vor acht Jahren meinte der Journalist Dieter E. Zimmer, "gedruckte Enzyklopädien haben ausgedient" und setzte auf elektronische Lexika, die stündlich aktualisiert werden könnten. Angesichts von Wikipedia hat sich solche Cyber-Euphorie nachhaltig dementiert. Wikipedia organisiert nicht Wissen, sondern zerstückelt es in ein ebenso wirres wie verwirrendes Verweischaos, während die 40 bis 60 Lexikographen bei Brockhaus das Expertenwissen von Tausenden von Spezialisten in konsistente Informationseinheiten verwandeln. Diese muss man nicht in Buchform vor sich haben, aber alles hat seinen Preis. Es ist eine aberwitzige Marotte zu glauben, kompetent organisiertes Wissen gäbe es zum Nulltarif. Solange die Finanzierung von Gratis-Online-Lexika durch Werbung nicht funktioniert, ist mit zweierlei zu rechnen - mit Qualitätsverlusten und mit dem Verschwinden einer kulturellen Institution von Brockhaus´ Format.

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