Adieu, Wohlhabende!

Frankreich Macrons Rentenreform soll Reichen helfen, sich aus dem Sozialstaat zu verdrücken. Die Proteste gehen weiter
Ausgabe 03/2020
Bis zum nächsten Sturm auf die Bastille ist es nicht mehr weit
Bis zum nächsten Sturm auf die Bastille ist es nicht mehr weit

Foto: Lionel Bonaventure/AFP/Getty Images

Seit über fünf Wochen legen Streiks der Eisenbahner, der Busfahrer und Angestellten im Pariser Nahverkehrsnetz das Land mehr oder weniger lahm. Nach Gewerkschaftsangaben beteiligten sich während des jüngsten Aktionstages am 9. Januar in allen größeren Städten 1,7 Millionen Menschen, neben Eisenbahnern und Lehrern auch Ärzte, Anwälte sowie die Beschäftigten von Raffinerien und Treibstofflagern. Lange blieb die Regierung von Édouard Philippe hart und setzte auf die Hoffnung, die Streikenden würden irgendwann zermürbt sein. Eine trügerische Erwartung, weder in der Bevölkerung noch in den meisten Medien kippt bisher das Verständnis für Aufruhr und Protest. Nach Umfragen halten das noch immer 60 Prozent der Franzosen für eine hinnehmbare Reaktion auf die Rentenreform.

Wie zu erwarten, ist unter diesen Umständen der politische Druck auf Präsident Macron und seinen Premierminister gestiegen. Letzterer kommt nunmehr der Abwehrfront entgegen, denn vorerst soll es das auf 64 Jahre erhöhte Renteneintrittsalter nicht geben und besagter Passus aus dem Gesetzentwurf gestrichen werden. Bis Ende April erhalten Gewerkschaften und Unternehmerverbände Zeit, eine finanzierbare Alternative auszuhandeln – ansonsten drohen Dekrete.

Geschwächter Premier

Ähnlich wie vor einem Jahr, als die Aktionen der Gelbwesten begannen, erdulden die Franzosen den Ausnahmezustand auf Straßen und Schienen, weil eine Mischung aus Zukunftsangst und gekränktem Gerechtigkeitsempfinden sie solidarisch sein lässt. Viele sind eben nicht der Meinung des neoliberalen Ökonomen Gilbert Cette, der von Armut bedrohten oder davon betroffenen Pensionären rät: „Nichts hindert Sie, mit einem Job neben der Rente Ihr Einkommen aufzubessern.“ Auch das von konservativen Blättern lahm gerittene Argument zieht nicht, wonach Gelbwesten und Streikende die Demokratie gefährden, dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) zugute kommen und demnächst Marine Le Pen zur Präsidentschaft verhelfen. Das Argument wird durch den Hinweis nicht überzeugender, Macron und Marine Le Pen lägen in Umfragewerten etwa gleich hoch bzw. gleich tief – bei 29 Prozent. Solcher Zahlenhokuspokus belegt nur, dass Macron seinem Image in zwei Jahren geschadet hat und die Rechtsextremisten ihren Wähleranteil trotzdem nicht auf einen Wert jenseits der 30 Prozent hochtreiben konnten.

Abgeordnete der Präsidentenpartei La République en marche (LRM) zweifeln öffentlich an Philippes Verhandlungsgeschick und ermahnen ihn, reformwilligen Gewerkschaften wie der Confédération Française du Travail (CFDT) die Hand zu reichen. Deren Führung unterstützt das Ziel der Rentenreform, die 42 Sonderregelungen durch ein universelles Punktesystem zu vereinheitlichen. CFDT-Chef Laurent Berger kündigte allerdings seine Zustimmung auf, als er den Pferdefuß entdeckte: Dass nämlich die Systemreform an eine Finanzreform zur Sanierung des Staatshaushalts gebunden ist. Um das zu erreichen, hatte die Regierung das Versprechen gebrochen, es bei einem Rentenbeginn im Alter von 62 Jahren zu belassen. Stattdessen sollten selbst Menschen, die sehr früh erwerbstätig wurden, gezwungen sein, bis zum 64. Lebensjahr durchzuarbeiten.

Die CFDT hielt das nicht nur für ungerecht, sondern obendrein für unnötig, da die Höhe des Defizits in den Rentenkassen umstritten ist. Berger schlug eine Rentenfinanzierungskommission der Sozialpartner vor, die eine Alternative ohne erhöhtes Eintrittsalter finden sollte. Dass Premier Philippe inzwischen eingelenkt hat, dürfte die CFDT in ihrem Verhandlungswillen bestärken – zu Lasten der radikaleren CGT?

Zuvor schon hatte die Regierung Konzessionen gemacht. Polizisten, Eisenbahnern, Piloten, Soldaten, Anwälten und Flugbegleitern wurden Besitzstandsgarantien zugesagt, ferner Mindestrenten von 1.000 Euro angekündigt, wovon besonders Bauern, Geringverdiener und Kleinunternehmer profitieren sollen. Hinterlässt das Wirkung? Bisher kaum.

Zur Schwächung des Premiers trug Emmanuel Macron mit dem bei, was er Neujahr einfädelte: Die Ernennung von Jean-François Cirelli zum Offizier der Ehrenlegion. Cirelli ist Chef der Frankreich-Filiale von Blackrock, des weltweit größten Vermögensverwalters, dem auch Friedrich Merz (CDU) diente. Blackrock verwaltet französische Vermögen von gut 30 Milliarden Euro. Die linke Senatorin Éliane Assassi (PCF) stellte bereits Mitte Dezember einen Zusammenhang zwischen der Rentenreform und engen Beziehungen des ehemaligen Investmentbankers Macron zur globalen Finanzmarktindustrie her. Spuren dieser „Connection“ finden sich im Reformprojekt wieder, nicht zuletzt im Ziel, die Beitragsbemessungsgrenze für Reiche bei der Rentenversicherung von 324.000 auf 120.000 Euro zu senken. Damit fiele der Anteil des Beitrags, den Reiche zur Rentenversicherung leisten und damit zur sozialstaatlichen Umverteilung, von 28 auf knapp 3 Prozent.

Es kristallisiert sich als Absicht der Reform heraus, die Reichen aus der Mithaftung für den Sozialstaat zu entlassen und so die globale Finanzmarktindustrie zu begünstigen, die für ihre „private Altersvorsorge“ auf Hunderttausende von Neukunden rechnen kann. Verglichen damit ist die deutsche Riesterrente ein Testlauf im Labor. Mit anderen Worten, Macrons Reform zielt aufs Ganze, den Kern des Sozialstaats – die Solidargemeinschaft. Zurück bliebe eine Gesellschaft, die in verarmende Staats- und begüterte Privatrentner gespalten wäre.

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