Am 22. März gibt es in den 101 Départements die erste Wahlrunde für die Abgeordneten der Generalräte. Für die Parti Socialiste (PS) droht der Ausgang des Votums ein Debakel zu werden, nimmt man an, dass die wegen des komplizierten Mehrheitswahlrechts unpräzisen Wahlprognosen vom Trend her zutreffen. Neben den schlechten Umfragewerten für den Regierungschef Manuel Valls und noch schlechteren für den Präsidenten François Hollande, die beide keinen Ausweg aus der sozialen und politischen Krise anbieten können, ist es besonders der fragile Zustand der nationalen Ökonomie, der die Atmosphäre belastet.
Zwar hat die EU-Kommission für Frankreich die Frist nochmals verlängert, bis die jährliche Neuverschuldung von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wieder eingehalten werden muss, aber die Arbeitslosigkeit steigt – seit Anfang 2012 bis zum Februar 2015 um etwa eine halbe Million Menschen. Weil das unter einer sozialistischen Regierung passiert, kommt der soziale Abstieg für Hunderttausende von Familien einem Desaster gleich.
Dafür befindet sich Marine Le Pen, die Chefin des Front National (FN), in einem steten Aufwind. Sie hat sich als Anwältin der Arbeiter und kleinen Angestellten im privaten Sektor sowie der subproletarischen weißen Franzosen etabliert. Die Ultranationalisten sind im ehemaligen schwerindustriellen Zentrum des Nordens ebenso wie im Armenhaus des agrarischen Südens zur stärksten Partei aufgestiegen. Die Aussichten des Front mit vielen seiner in über 90 Prozent der Wahlkreise antretenden gut 7.000 Kandidaten im ersten Wahlgang auf Platz eins oder zwei zu landen, womit man zur Stichwahl zugelassen wäre, stürzt den PS in interne Konflikte. Das Trauma vom dritten Rang hinter dem Front National und der konservativen Union pour un Mouvement Populaire (UMP) schwebt wie ein Damoklesschwert über den Sozialisten. Diesen Platz belegte Expremier Lionel Jospin im ersten Wahlgang bei der Präsidentschaftswahl am 21. April 2004 hinter Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen, dem Vater der heutigen FN-Präsidentin.
Momentan sind die Sozialisten vielerorts gespalten in solche, die am 22. März mit eigenen Listen antreten, und solche, die noch Restchancen des PS durch Listenverbindungen mit Kommunisten, Linkspartei, Grünen und Radikaldemokraten sichern wollen. Das Dilemma dieser Fraktion: Listenverbindungen gelten als Zeichen der Schwäche und eines sinkenden Ansehens der Partei. Andererseits schmälern getrennte Listen die Wahlaussichten und gleichen einer Strategie, die der Niederlage mit einem Selbstmord zuvorkommen will. Einzelne Beobachter sehen die Sozialistische Partei bereits am Rand einer Parteispaltung oder auf dem Trip in die Bedeutungslosigkeit. Sie hat auf den inzwischen vergleichsweise moderaten Kurs des FN unter Marine Le Pen – Stichwort Entdiabolisierung – keine Antwort.
Hollande und Valls wollen die schwierige Lage der Partei arbeitsteilig bewältigen. Der Staatschef übernimmt den Part der abgehoben überparteilichen Instanz. Was ihm unmittelbar nach den mörderischen Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo wie beim Minsker Ukraine-Gipfel mit der deutschen Kanzlerin gelang und seine Umfragewerte nach oben trieb, funktioniert derzeit nicht mehr. Mit seinem unentwegten Beschwören von Hoffnung und Optimismus wirkt Hollande nur noch ohnmächtig und hilflos.
Strategisches Dilemma
Valls hingegen ist zuständig für die Dramatisierung im Handgemenge des Wahlkampfs. Er redet von der „nationalen Katastrophe“, den ein Wahlsieg des FN auslösen würde. Mit Jean-Christophe Cambadélis, dem kommissarischen Parteichef, warnt er vor der „Banalisierung des FN“ und „einer Form des kollektiven Einschlafens im Angesicht der Ultrarechten“. In einem Fernsehinterview sagte Valls wörtlich: „Ich habe Angst, dass mein Land am FN zerschellt“, der „bereits an den Pforten zur Macht rüttelt“. Er verlangte deshalb „die Stigmatisierung Marine Le Pens“ und beklagte „den Zynismus eines großen Teils der Intellektuellen“ gegenüber dem FN und dem reaktionären Schriftsteller Michel Houellebecq. Für den Rechtsextremismusexperten Gaël Brustier fällt Valls Diagnose des „kollektiven Einschlafens“ dem Premier prompt auf die eigenen Füße. Der „kollektive Intellektuelle“ unter dem Label PS sei in den zurückliegenden Jahrzehnten zur „Quelle für lauwarme Denkerei“ verkommen.
Valls’ forsche Attacken auf Marine Le Pen kamen bei vielen Sozialisten und bei der Parteilinken gut an. Diese beklagen aber eine „Lücke“ zwischen den kämpferischen Tönen Valls’ im Augenblick und dem politischen Kurs seiner Regierung, die ihre neoliberalen Reformen nur unter Berufung auf einen Quasi-Notstandsartikel in der Verfassung und am Parlament vorbei durchsetzen konnte.
Wer die Debatten vor den Départementswahlen verfolgt, hat den Eindruck, dass ein Durchmarsch von Marine Le Pen bei den Präsidentenwahlen 2017 schon als fast sicher unterstellt wird. Sich diesem Fatalismus zu ergeben, heißt das programmatische und strategische Dilemma verkennen, in dem sich der FN befindet. Bei wichtigen Forderungen der Partei folgt nur annährend die Hälfte der FN-Wähler der FN-Führung. Das gilt für einen Austritt aus der Währungsgemeinschaft ebenso wie den Anti-EU-Kurs generell. Noch gravierender ist das strategische Problem, wenn sich die Parteiführungen des FN und der Sarkozy-Partei UMP in etwa auf einer Linie wiederfinden, wenn es um staatliche Autorität, traditionelle Werte und nationale Identität geht – aber eben nur auf diesen drei hochgradig ideologisierten Feldern.
Mehrheitsfähig kann der FN jedoch nur werden, wenn er als stärkste rechte Kraft mit der UMP eine Allianz formt, die zu einem politisch handlungsfähigen rechten Block führt. Eine solche „Entente brachial“ steht allerdings in den Sternen. Die Hälfte der UMP-Wähler will eine solche Verbindung partout nicht, während sie durch über 80 Prozent der FN-Wähler und -Anhänger befürwortet wird. Marine Le Pen wird mit ihrer Partei insofern nur mehrheitsfähig sein, wenn es ihr gelingt, die UMP in Liberal-Konservative und Rechtsnational-Konservative zu spalten. Ein derartiger Riss ist zwar an der südlichen Rhone – etwa in der Region Vaucluse – möglich und denkbar, aber keineswegs landesweit.
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