Gewerkschaften gelten dem Zeitgeist nicht selten als steinzeitliche Dinosaurier und Relikte des Industriezeitalters. In Frankreich sind diese Meinungen noch stärker verbreitet als in Deutschland, weil in diesem Land die Syndikate in Privatunternehmen sehr schwach sind. Flächendeckend streikfähig sind sie nur noch im öffentlichen Sektor, um den Interessen von Beamten, Eisenbahnern oder Lehrern Geltung zu verschaffen.
Im Februar hat Präsident Macron angekündigt, die staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF durch Reformen privatisierungsreif zu machen und bei Neueinstellungen das Eisenbahnerstatut zu kassieren, das für Sonderbelastungen des Personals (Nacht- und Sonntagsdienste, häufiger Ortswechsel) Kompensationen vorsieht, die gemeinhin als Privilegien denunziert werden. Das Vorhaben stieß sofort auf den geschlossenen Widerstand der vier bei der SNCF präsenten Gewerkschaften CGT, CFDT, FO und Rail-Sud. Die einigten sich mit den Beamtengewerkschaften auf den 22. März als ersten Aktionstag, das heißt, auf Kundgebungen in etwa 200 Städten. Zugleich gilt seit Anfang April eine innovative Proteststrategie, die den Gewerkschaften kaum jemand zugetraut hat: Bis zum 28. Juni soll jeweils an zwei von fünf Tagen gestreikt werden. Verantwortlich dafür ist eine junge Generation von Gewerkschaftsführern, unter denen Laurent Brun herausragt. Er will, dass die Trade Unions den Hang zum Fatalismus überwinden und auf Zorn umschalten. Brun, geboren 1979, ist seit Januar 2017 Generalsekretär der Eisenbahnersektion bei der CGT, gilt als die rechte Hand von CGT-Chef Philippe Martinez und durchsetzungsfähig. Die konservative Presse sieht in ihm „das jugendliche Antlitz des Stalinismus“, ohne dies mit belastbaren Aussagen Laurent Bruns unterfüttern zu können.
Bekanntlich ist in Frankreich das Streikrecht viel weniger reglementiert als in Deutschland. Im Prinzip können Gewerkschaftsführungen jederzeit zum Ausstand rufen, falls sie sicher sind, dass ihnen die Mitglieder folgen, die so gut wie kein Streikgeld erhalten. Für sogenannte politische Streiks gibt es im Französischen nicht einmal ein Wort, weil Streikaktionen als politisch legitim gelten und die Fiktion vom „unpolitischen Streik“ bestenfalls Kopfschütteln erzeugt.
1.219 Euro brutto
Macron und sein Premier Edouard Philippe boten den Gewerkschaften im Vorfeld ihres SNCF-Projektes Gespräche an, was Laurent Brun für eine Farce hielt: „Man fordert uns auf mitzuarbeiten, doch dann wird in die Reformpläne absolut nichts von unseren Vorstellungen übernommen. Warum soll ich mich als Dummkopf behandeln lassen?“ Macron gibt im ungewollt recht, wenn er angesichts des SNCF-Widerstandes beteuert, sein Reformzug werde „weder morgen noch im nächsten Monat noch in drei Monaten halten“.
Bruns Streikstrategie durchkreuzt das Kalkül des Präsidenten, das Machtgefälle zuungunsten der Gewerkschaften für sich zu nutzen. Deren Vorgehen passt sich dem vorhersehbaren Handeln der Regierung an. Diese will ihre Bahnreform mit „Ordonnances“ am Parlament vorbei durchsetzen. Zwei Monate nach Erlass dieser Verordnungen kann die Nationalversammlung die SNCF-Reform dann nur noch ganz ablehnen oder völlig unverändert annehmen. Mit ihrem Rhythmus – zwei Streiktage, drei Arbeitstage – reagieren die Gewerkschaften auf Macrons Taktik gegenüber der Legislative, indem sie deren zweimonatige Zwangspause nutzen, um der Öffentlichkeit präventiv zu zeigen, was sie bei einem von privaten Interessen beherrschten Transportsystem zu erwarten hätte. Mit einer teilprivatisierten Bahn, so Laurent Brun, würden „die Bahnbenutzer zu Geiseln“ profitorientierter Investoren. Mit der Strategie des Zorns hingegen würden Bürger nicht zu Geiseln der Gewerkschaften, sondern zu Zeugen, wie man heute für die Zukunft öffentlicher Daseinsvorsorge kämpfen kann. Schließlich werden derzeit auch bei Air France und anderen Staatsfirmen heftige Arbeitskonflikte ausgetragen.
Dass man bei der SNCF auf eine flexible Strategie zurückgreift, ist auch dem Umstand geschuldet, dass ein zweimonatiger Dauerstreik gar nicht durchzuhalten wäre. Die Gewerkschaftsführungen würden sich schnell blamieren, wollten sie das über die Köpfe der Mitglieder hinweg versuchen. Ungeachtet dessen halten sie es für geboten, den Widerstand gegen den neoliberalen Kurs Macrons politisch zuzuspitzen. Denn im Unterschied zu dessen „Ordonnances“ verbindet Brun sein Konzept mit einer klar demokratischen Praxis: Die Streikenden stimmen nach jeder Streikphase darüber ab, ob sie nach drei Arbeitstagen weitermachen oder abbrechen. Die Gewerkschaftsführungen gehen damit ein hohes Risiko ein. Wie derartige Voten unter Streikenden ausgehen, denen Woche um Woche gut 40 Prozent ihres Einkommen entgehen, vermag niemand vorauszusagen. Die Lohnskala beginnt bei den Eisenbahnern der SNCF mit 1.219 Euro brutto im Monat.
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