Dieser Bundespräsident war nicht zu beneiden, dass er gerade jetzt seine Rede zum 8. Mai halten musste, denn eine mediale Schlacht tobt über dessen Deutung: Sind die Deutschen Opfer, Besiegte oder Befreite? Angefangen hat es seinerzeit mit Günter Grass´ Gustloff- Geschichte und wurde mit Jörg Friedrichs Bestseller Der Brand, dem filmischen Untergangs-Epos der Firma Hirschgiebel, Eichinger Fest sowie Hubertus Knabes einäugiger Darstellung des Kriegsendes (s. Freitag 18/05) fortgesetzt. Inzwischen erhob der Literaturwissenschaftler Frank Schirrmacher den Serienfilm Speer und Er gar zum »Meilenstein«, und nicht nur von den hinteren Rängen wird dieses »leicht delirierend« (Ulrich Herbert) vorgetragene Geschmacksurteil mit den bunten Rechtfertigungsgirlanden gelernter Historiker versehen.
In einer ähnlichen Atmosphäre hielt Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 seine Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Helmut Kohl plante gerade, sich zusammen mit Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg wo auch SS-Leute begraben sind zu treffen. Und der CDU-Politiker Alfred Dregger teilte seinen Freunden mit, am 8. Mai 1945 habe er in Schlesien stramm gestanden und das Land gegen den Bolschewismus »verteidigt«. Franz Josef Strauß empfahl, »die Büßerhemden« endlich auszuziehen. Und der damalige CDU- Generalsekretär Heiner Geißler gab zu Protokoll, »die eigentliche Schande unserer Zivilisation« sei nicht Auschwitz, sondern die Sowjetunion.
In diesem Handgemenge hielt Richard von Weizsäcker damals seine Rede zum 8. Mai, die weit über die Partei- und Landesgrenzen hinaus viel Beachtung fand, obwohl er doch nur sagte, was längst fällig war: »Der 8.Mai war ein Tag der Befreiung. (...) Die Ursache für Flucht und Vertreibung und Unfreiheit« dürfe man nicht im Kriegsende sehen. »Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn der Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.«
Neben klaren Sätzen enthielten Weizsäckers Darlegungen jedoch auch Dumpfes und Bedenkliches. Der damalige Bundespräsident machte »das ganze Volk zum Werkzeug« von Hitlers »Judenhass« und ließ so ganz nebenbei die mitverantwortlichen Eliten für die Ermordung der Juden verschwinden. Vom Schuldigen an Verbrechen über den hohen Verantwortlichen in der Befehlskette bis zum subalternen Mitwisser hinunter sollte sich fortan jeder »selbst im Stillen fragen«, was er zu tragen habe. Schuld, Verantwortung und Erinnerung vermischte Weizsäcker zum »Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Innern.« Diese so diffuse wie fragwürdige Konstruktion krönend, erklärte er die Deutschen pauschal »zu Opfern unseres eigenen Krieges«. Sozusagen als Universaltäter blieben der »Judenhass« und der tote Führer übrig.
Weizsäckers Rede wird trotzdem bei allen Defiziten als eine befreiende Rede in die Geschichte eingehen. Davon kann der jetzige Bundespräsident nur träumen, obwohl er eingangs einen deutschen Kriegsgefangenen mit einer beachtenswerten Einsicht zum Kriegsende zitierte: »Wir«, und damit meinte der Soldat pauschal die Wehrmacht, »werden als Mörderbande angesehen, denen die Maske abgerissen wurde«. Man darf gespannt sein, wie lange es dauert, bis ein eifriger Staatsanwalt darin eine Verunglimpfung Toter erkennen möchte und ermitteln lässt.
Danach sprach Köhler nur noch wie ein Buchhalter über Soll und Haben. Den dreizehneinhalb Zeilen für fremde Opfer standen die vierzehneinhalb für die eigenen Opfer gegenüber. Kompensiert wurde das durch warme Worte für die Ostdeutschen, die mehr Reparationsleistungen erbrachten und weniger Aufbauhilfe bekamen. Alles in allem also eine ausgeglichene Bilanz. Köhlers Rede im Geist der doppelten Buchhaltung kulminierte denn auch in dem Satz: »Wir trauern um alle Opfer, weil wir gerecht gegen alle Völker sein wollen, auch gegen unser eigenes.« Das entsprach den im Geist der Dolchstoßlegende 1923 erfundenen und im Adenauerstaat von 1952 an wiederbelebten verlogenen Volkstrauertag- Reden.
Köhler schätzt inhaltslose Floskeln: »Unsere ganze Geschichte bestimmt die Identität der Nation... Wir haben uns als Nation wieder gefunden.« In dieser auffallend selbstgerechten deutschen Selbstfindungsbilanz (»wir haben heute guten Grund, stolz auf unser Land zu sein«) fehlten die »Widerstandskämpfer aus Arbeiterschaft, Gewerkschaft und kommunistischen Kreisen« (die von Weizsäcker 1985 ausdrücklich erwähnt hatte) ebenso wie die Millionen Ausländer, die heute im Land arbeiten und leben. Für Rassismus und Rechtsradikalismus hielt der Buchhalter ganze sechs Zeilen und drei Sätze bereit.
Köhlers Hoffnungen ruhen auf »den Jüngeren«, die oft auftreten dürfen in seiner Rede. Sie tragen Jeans, hören Jazz und tanzen Rock ´n Roll, sind gegen Rassendiskriminierung, Vietnamkrieg und Atomkraft, aber ein erkennbares politisches Gesicht bekommen sie nicht, weil Köhler »1968« im Mülleimer der Geschichte entsorgt wissen möchte, obwohl bis da hin öfters über Verjährung und »Schlussstriche« als über den 8. Mai 1945 debattiert wurde.
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