Wie hierzulande kursiert auch in Frankreich das Gerücht von den politisch versteinerten, bewegungsunfähigen Gewerkschaften. In Clermont-Ferrand hat jüngst die ehemals kommunistisch dominierte Gewerkschaft Confédèration générale du travail (CGT) gezeigt, was von dieser Parole zu halten ist – wenig bis gar nichts. Die seit 1895 bestehende, ehrbare Instanz der französischen Arbeiterklasse wählte bei ihrem Kongress in der Auvergne mit 82 Prozent der Stimmen die linke Sozialistin Sophie Binet und damit erstmals eine Frau zur Vorsitzenden. 1982 geboren, wurde sie Nachfolgerin des legendären Gewerkschaftsführers Philippe Martinez.
Das Votum für Binet, zustande gekommen nach heftigen Debatten wegen der überraschenden Ablehnung d
blehnung des Rechenschaftsberichts von Martinez durch eine knappe Mehrheit der Delegierten, hat nicht allein erfahrene Beobachter der Gewerkschaftsbewegung überrascht. Auch Sophie Binet selbst hatte wegen ihrer familiären Situation – sie ist mit einem Marineoffizier verheiratet und hat mit diesem eine vierjährige Tochter – kaum mit einem solchen Erfolg gerechnet.Sie stammt aus Nantes in der östlichen Bretagne, studierte dort und wurde danach Gewerkschaftssekretärin, nachdem sie eine Zeitlang in einem berufsvorbereitenden Gymnasium unterrichtet hatte. Hier verschrieb sie sich der Aufgabe, den sozialen Abstieg junger Menschen aus den heruntergekommenen Vorstädten der Metropolen oder den Brennpunkten der Banlieue von Paris zu verhindern. Bereits als junge Frau hatte sie sich dafür engagiert. Sie arbeitete für eine christliche Jugendorganisation und als Funktionärin der Union nationale des étudiants de France (UNEF), deren Präsidium sie 2009 übernahm.Im Kampf und bei den Streiks gegen Macrons Rentenreform spielte sie nach übereinstimmender Meinung vieler Medien eine ebenso maßgebliche Rolle wie 2022 bei der nationalen Kampagne gegen sexistische Gewalt, seinerzeit bestärkt durch die MeToo-Bewegung. Als Mitglied des Parti Socialiste (PS) unterstützte sie Benoît Hamon und die einstige Arbeitsministerin Martine Aubry 2016 gegen den Kurs von Präsident François Hollande und Premier Manuel Valls. Sie wandte sich besonders gegen das Projekt eines Arbeitsgesetzes, das die Rechte und Chancen der Gewerkschaftsverbände empfindlich eingeschränkt hätte, wäre es beschlossen worden.Landesweit bekannt wurde Binet, als sie sich während der kürzlichen Streiks gegen die Rentenzäsur weigerte, an einer Talkrunde des Senders CNews (Kanal 16) des Milliardärs und Medienmoguls Vincent Bolloré teilzunehmen. Sie wollte einem fast restlos monopolisierten, von Konservativen beherrschten französischen Medienbetrieb nicht zur Verfügung stehen. Diese Zustände, so Binet, behinderten nicht allein eine pluralistische Willensbildung, sondern letztlich die Presse- und Meinungsfreiheit insgesamt. Sie konfrontierte die Medien mit dem Vorwurf, „totalitäre Allüren“ zu pflegen. Selbst Publizistin, machte sich Binet als engagierte Anwältin einer demokratischen Meinungsfreiheit einen Namen.Sophie Binet von Emmanuel Macron bitter enttäuschtIn einem Interview erklärte sie vor Kurzem, der Protest gegen Macrons Rentenreform sei nicht vorbei. Er werde von vereint kämpfenden Gewerkschaften weiterhin auf der Tagesordnung gehalten. Einen „Streik auf Anordnung von oben“ könne es allerdings nicht geben. Entscheidend für eine Fortdauer des Widerstands und der Mobilisierung seien allein die Beschäftigten in ihren Betriebs- und Branchenversammlungen. Von Präsident Macron hingegen sei sie als Gewerkschafterin bitter enttäuscht. Schließlich habe er im Vorjahr auch dank der Stimmen von Linken und Liberalen einen Einzug von Marine Le Pen in den Élysée-Palast verhindern können.Statt danach seine Versprechen einzulösen, habe Macron mit seiner Politik „einen Boulevard für Le Pen bei den Wahlen von 2027 freigeräumt“. Falls er sich nicht zu einer Kurskorrektur entschließen sollte, sei nicht allein „eine Krise des Regimes der V. Republik, sondern ein Verfassungskonflikt und eine regelrechte Krise der Demokratie“ möglich, so Sophie Binet bei ihrem Auftritt am 1. Mai, der zugleich der 13. Aktionstag der Gewerkschaften gegen die Rentenreform war.Die Beteiligung daran war mit 2,3 Millionen Teilnehmern, so die Angaben der Gewerkschaften, nochmals recht hoch, wenn auch nicht so überwältigend, wie es sich Sophie Binet womöglich erhofft hatte. Jedoch steht nach wie vor eine Mehrheit der Französinnen und Franzosen hinter den Protestrufen der Gewerkschaften, während sich der Präsident der Illusion hingibt, er könne sich des Vertrauens einer „schweigenden Mehrheit“ sicher sein. In diesem Sinne hatte er sich bei einer Reise durch das Land ebenfalls am 1. Mai geäußert. Was Binet mit den Hinweis bedachte, Macron sei auf dem Weg, „zum Präsidenten des Chaos zu werden“.Obwohl der Verfassungsrat die Reform im Wesentlichen passieren ließ, können die vereinigten Gewerkschaften ihre Proteste zumindest als Teilerfolg verbuchen, denn die Stimmung im Land ist dadurch zu ihren Gunsten gekippt und ihr Ansehen bei der Bevölkerung gestärkt. Sie hätten „das Wappen der sozialen Demokratie“ verteidigt, wie die Zeitung Le Monde am 3. Mai kommentierte. Zwar stimmt das Sprichwort, nach dem eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, wohl auch mit Blick auf die CGT. Aber wenn nicht alles täuscht, müssen sich die konservativen Kommentatoren künftig für die Diskreditierung der Gewerkschaften eine neue Formulierung einfallen lassen. Die beliebte Floskel vom „Club alter weißer Männer“ hat ihre ohnehin überschätzte Überzeugungskraft auch dank Sophie Binet definitiv verloren.