Zu den von Politikern am häufigsten gebrauchten Pathosformeln gehört nach dem Brexit-Votum die Phrase, „das Schlechteste wäre, weiterzumachen wie bisher“. Wie alle Gemeinplätze enthält auch dieser ein Körnchen Wahrheit, geht aber am Kern der Probleme vorbei. Ebenso wie der Rundumschlag des Hyperaktiven Bernard-Henri Lévy: „Das ist der Sieg der Schläger und debilen Linksradikalen, der Faschisten und wein- und biertrunkenen Hooligans, der analphabetischen Rebellen und angstverschwitzt-ochsenstirnigen Neonationalisten.“
Wie auch immer, der Zauberlehrling David Cameron hat sich verzockt. Bis zum Februar 2016 benutzte er den Brexit als Brechstange, um in Brüssel und bei den 27 Mitgliedsstaaten Sonderkonditionen zu erpressen. Al
ressen. Als ihm klar wurde, wie ernst die Lage zu werden begann, setzte er auf den guten Ruf des Vernunft-Europäers und Empire-Nostalgikers Winston Churchill. „Churchill hat Europa nicht fallen lassen, sondern entschieden, Hitler zu bekämpfen“. Die verquere und historisch falsche Analogie zwischen dem Entschluss Churchills von 1940, sich Hitler militärisch in den Weg zu stellen – trotz der entmutigenden „Blitzkriegs“-Erfolge im Osten, Norden und Westen Europas –, und dem Krämerkalkül Camerons, sich die Mitgliedschaft in der EU versilbern zu lassen, hat nicht gereicht, eine Mehrheit der Briten für den EU-Verbleib zu mobilisieren.Erstaunlicherweise wurde Camerons Versuch, sich als Retter Europas und der EU aufzuplustern, von französischen Politikern und Medien im Vorfeld des Referendums kaum wahrgenommen. Die Leitartikler von Le Monde bemühten sich zu betonen, wie stark Großbritannien von der EU-Mitgliedschaft profitiere und die Gemeinschaft geprägt habe beim Freihandel wie bei der Osterweiterung. Dass die Mehrheit gegen die EU vor allem eine gegen das neoliberale Markteuropa der sozialen Zerrissenheit ist – ein Europa also, das britische Regierungen maßgeblich zu verantworten haben –, wird nur zu oft kleingeredet.Sarkozy in FahrtAuf jeden Fall ist auf einmal der „deutsch-französische Motor“ wieder im Gespräch. Als sich Angela Merkel und François Hollande zu Wochenbeginn in Berlin trafen, war es dem französischen Präsidenten vorbehalten, vage von „gemeinschaftlicher Ankurbelung“ zu sprechen, doch hatten zuvor schon Finanzminister Schäuble und sein Amtskollege Macron erklärt, was darunter nicht zu verstehen sei: mehr Integration. Macron wies zudem den Gedanken an einen „leichteren Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt“ schroff ab: „Man ist drinnen oder draußen.“So wie sich die britischen Konservativen in der Frage des EU-Austritts faktisch zerlegt haben, so gravierend sind die Differenzen unter Frankreichs rechtsbürgerlichen Republikanern. Dabei vermischt sich die Flüchtlingsfrage mit der Konkurrenz um die konservative Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2017. Nicolas Sarkozy hat seine Bewerbung zwar noch nicht offiziell bekannt gemacht, aber er pendelt zwischen Paris, Berlin und Moskau, um sich anzubieten. Nach dem Abgeordneten Éric Cotti, der Sarkozy nahesteht, soll dieser die Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin als „historischen Irrtum“ bezeichnet haben. Überdies nannte er die Visafreiheit für türkische Bürger „eine Dummheit“ und kritisierte den Flüchtlingsdeal mit der Türkei scharf: „Es ist eine Beleidigung Europas, sich von den türkischen Behörden manipulieren zu lassen.“ Fast gleichzeitig plädierte Sarkozy in Moskau für ein Ende der EU-Sanktionen gegen Russland, von denen die deutsche Kanzlerin nicht lassen will.Mit diesen pointierten Gegenpositionen zu Merkel und ihrer EU-Politik empfiehlt sich Sarkozy den Europaskeptikern, ohne direkt gegen die EU Stimmung zu machen und die vorsichtige Option seines Hauptkonkurrenten Alain Juppé („man kann nicht weitermachen wie bisher“) zu konterkarieren. Es geschieht bei den französischen Konservativen Ähnliches wie bei den Tories: Man ist die EU leid, setzt auf eine Renationalisierung der Politik und Redimensionierung der EU, will das aber nicht so laut und deutlich sagen wie die demagogische Führungsriege des Front National (FN). Noch wird Wert auf eine Minimaldistanz zum Chauvinismus, Rassismus und Nationalismus der Rechtspopulisten gelegt, aber ungeachtet dessen ostentativ auf die „Kraft der Nation“ vertraut. Vielleicht lässt sich so in der EU-skeptischen und sozial oft deklassierten Wählerschaft des FN auf Stimmenfang gehen.„Nach dem Sieg der Freiheit“ in Großbritannien beschwor denn auch Marine Le Pen das „Europa der Nationen“ und intonierte: „Entweder man wartet auf den Untergang, die Explosion oder aber man setzt sich an einen Tisch und schafft das Europa, das die totalitäre EU ersetzt, wie wir sie heute haben.“ Die FN-Vorsitzende kann sich für den spätestens in sieben Monaten beginnenden Wahlkampf kaum eine bessere Vorlage als das Brexit-Votum wünschen. Sie wird ihr Land zum Präzedenzfall dafür erklären, wie wirtschaftlicher Niedergang den Zwängen der EU-Mitgliedschaft – eben der „Fremdbestimmung“ – geschuldet ist.„Und jetzt Frankreich“, heißt die Devise. Warum nicht nach dem Copy-and-Paste-Verfahren das britische Muster übernehmen und ebenfalls ein Referendum über Sein oder Nichtsein in der EU anberaumen, wird gefragt. Noch allerdings gehen in der FN-Führung die Auffassungen auseinander, ob erst Verhandlungen mit der EU-Zentrale über einen neuen Status für Frankreich abzuwarten sind oder gleich abgestimmt werden soll, wie das Le Pens Stellvertreter Florian Philippot favorisiert. Für die Rechtsnationalisten reimt sich EU auf „Konfusion, Korruption, Katastrophe, Unordnung, Konflikt und Chaos“. Da solche Urteile unter den Franzosen immer mehr Unterstützer finden, dürfte Le Pen mit ihrem EU-Verriss im Köcher nach der Präsidentschaft greifen. Sollte sie triumphieren, wäre die europäische Gemeinschaft endgültig am toten Punkt. Die Absetzbewegung dürfte dann auch die Niederlande, Belgien, Dänemark und andere mit sich fortreißen.Placeholder link-1Placeholder link-2Placeholder link-3