Das Subjekt der Demokratie

Anführungszeichen Luciano Canforas zwiespältige Streitschrift "Eine kurze Geschichte der Demokratie"

Nachdem im November 2005 bekannt geworden war, dass der Münchener Verlag C.H.Beck das aus dem Italienischen übersetzte Buch von Luciano Canfora - Eine kurze Geschichte der Demokratie - nicht drucken werde, kritisierten diese Entscheidung einzig der Freitag, konkret und die FAZ. Inzwischen ist das Buch vergangenes Jahr im Kölner PapyRossa-Verlag erschienen.

Mit zahlreichen Interviews gelang es damals dem Cheflektor des Beck-Verlags - Detlef Felken unter Berufung auf fünf Gutachter, - kräftig Stimmung zu machen gegen das Buch. Nur einer der Gutachter, Hans-Ulrich Wehler, begab sich selbst ins Handgemenge und redete von einem "puren kommunistischen Pamphlet ... Es übertrifft in seiner dogmatischen Dummheit sogar noch die DDR-Produkte."

Das Dumme an dieser Polemik und an der siebenseitigen Fehlerliste des Cheflektors ist freilich, dass Canfora in seiner 90-seitigen Antwort an seine Kritiker mit dem schönen Titel Das Auge des Zeus nachweisen kann, dass sich die Fehlerliste zwar auf die Paginierung des italienischen Originals bezieht, die inkriminierten Fehler jedoch der deutschen Übersetzung entnommen sind. Es steht also fest, dass die gutachtenden Kritiker die Stichhaltigkeit ihrer Einwände nicht am Original überprüft haben.

Leider war die deutsche Übersetzung ziemlich fehlerhaft. Es fällt dem brillanten Polemiker Canfora denn auch leicht, seinen Kritikern nachzuweisen, dass die vermeintlichen Sachfehler zu einem guten Teil auf die unpräzise Übersetzung zurückzuführen sind. Und in vielen Fällen geht es um akademisch aufgedonnerte Nickeligkeiten in der Preislage der Frage, ob Rosa Luxemburg den Spartakusbund aus dem Gefängnis heraus "gegründet" habe oder dabei nur irgendwie beteiligt gewesen sei. Gelegentlich missverstehen die Kritiker den Autor einfach, unterstellen die dümmste Lesevariante oder skandalisieren mickrige Unkorrektheiten (so spricht Canfora einmal vom "Frieden" statt von der "Konferenz von Jalta", was ihm schärfsten Tadel einbringt).

Aus den Briefen des Cheflektors an Canfora wird deutlich, dass die 21 Fehler der Liste nur ein Vorwand sind und die fünf Gutachter die professorale Begleitmusik lieferten für die Ablehnung des Buches. Tatsächlich passten dem Verlag und den Gutachtern die ganze Richtung nicht. Wenn es um die Darstellung der ehemaligen "Volksdemokratien", Adenauers Restauration, den Hitler-Stalin-Pakt und den Stalinismus geht, hat es mit wissenschaftlichem Pluralismus notorisch ein schnelles Ende.

Die Wurzeln des Konflikts liegen jedoch noch eine Schicht tiefer und beginnen schon mit der vom Verlag durchgesetzten Änderung des Titels Eine kurze Geschichte der Demokratie. Im Italienischen Original hieß er: La democrazia - storia di un´ ideologia, und auch die ebenfalls inzwischen erschienene französische Übersetzung behielt ihn bei: La démocratie - histoire d´une idéologie (Die Demokratie - Geschichte einer Ideologie). Der Unterschied ist klein, aber entscheidend. Canfora liefert keine Sachgeschichte über 2500 Jahre Demokratie, sondern eine Geschichte darüber, wie der Begriff "Demokratie" politisch instrumentalisiert wurde und wird. Und diese Ideologiegeschichte beruht auf zwei fundamentalen Annahmen, die dem Verlag und seinen Gutachtern nicht ins übersichtliche Weltbild passen.

Erstens will Canfora zeigen, in welchem Ausmaß jede Form bisheriger Demokratie auf Ungleichheit beruht. In seinem Hang zur polemischen Zuspitzung geht Canfora so weit, im Anschluss an den Konservativen Giacomo Leopardi (1798-1837) zu behaupten, jede bisherige Form von Freiheit und Demokratie sei getragen von Ungleichheit, ja Sklaverei. Im gelungensten Teil des Buches demonstriert der klassische Philologe Canfora überzeugend, was "Demokratie" in der griechischen Antike meinte: "dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirklichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes" (Thukydides). Für viele antike Autoren ist "Demokratie" geradezu identisch mit Diktatur beziehungsweise Gewaltherrschaft, die im Namen der Vielen von den Wenigen (und Besitzenden) ausgeübt wird. Canforas Fazit: "Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die athenische Demokratie nicht die ›Herrschaft des Volkes‹ bedeutete, sondern die Übernahme der Führungsrolle innerhalb der ›Volksherrschaft‹ durch den nicht kleinen Teil der ›Reichen‹ und ›Herren‹, die das System akzeptierten." Für die antike Gesellschaft liegt der innige Zusammenhang von Demokratie und Sklaverei auf der Hand. Selbst nach der Erweiterung des Bürgerrechts in Athen waren es nie mehr als ein Fünftel der Einwohner, die Vollbürger und damit politisch stimmberechtigt waren.

Zweitens beruht Canforas Ideologiegeschichte auf der These, dass die Demokratie keine Regierungsform und kein Verfassungstyp sei, der mit der parlamentarischen Demokratie an seinen unüberschreitbaren Höhepunkt gelangt sei. Demokratie ist für ihn "in unterschiedlichsten politisch-konstitutionellen Formen" aufgetreten und folglich auch mit der parlamentarischen Demokratie nicht an ihr Ziel gelangt. Auch heutige Demokratien sind nicht nur demokratisierbar, sondern auch demokratisierungsbedürftig, was umgekehrt auch heißt: das Niveau heutiger parlamentarischer Demokratie ist nach unten verschiebbar, wofür er es zahlreiche Beispiele gibt. Berlusconi höhlte die demokratischen Institutionen aus und errichtete dank seiner Medienmacht ein mediales Nebenregime, das die Öffentlichkeit manipulierte. Canforas Kritiker dagegen leben in einer normativ geordneten Welt: unterhalb und oberhalb der parlamentarischen Demokratie gibt es keinerlei Demokratie - und damit basta.

Bei seinem Ritt durch die Geschichte kommt es Canfora hauptsächlich darauf an zu zeigen, wie beschränkt das Wahlrecht bis ins 20. Jahrhundert blieb. 1848 gab es in Frankreich erstmals Wahlen, in denen das allgemeine Wahlrecht für Männer galt. Drei Jahre später demontierte Louis Napoléon im "Namen des allgemeinen Wahlrechts" die revolutionäre Errungenschaft und ließ drei Millionen Wählern per Parlamentsbeschluss ihr Wahlrecht wegnehmen. Das Frauenwahlrecht wurde erstmals 1906 in Finnland eingeführt und nicht, wie Canfora behauptet, 1917 in Russland. In Italien besaß 1912 nur ein Viertel der Einwohner das Wahlrecht. Noch die Einführung des Mehrheitswahlrechts in Frankreich (1958) stand im Zeichen der Parole, "ein bisschen Demokratie" durch "viel Oligarchie" abzusichern: De Gaulles Partei erhielt mit 28 Prozent der Stimmen 184 Sitze, die KPF mit 20 Prozent ganze 10.

Canfora ist sicher zuzustimmen, dass in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 mit den "Sowjets" (Räten) "ein neues Subjekt der Demokratie" auf die politische Bühne trat. Es gehört zu den Schwächen des Buches, dass sich der Autor oft in rhetorischem Pathos und völlig abwegigen Vergleichen verliert. So meint er zum Beispiel, die stümperhaften englischen und französischen Interventionsversuche 1917 in Russland beziehungsweise in der Ukraine seien erfolgt aus der Furcht, Russland hätte "als Beispiel für den kürzesten Weg zur sozialen Gerechtigkeit" Schule machen können. Wäre das der Fall gewesen, hätten England und Frankreich - zusammen mit den USA! - wohl doch etwas mehr Truppen in die Schlacht geschickt. Die Spekulation wird noch grotesker dadurch, dass Canfora kein Wort dazu sagt, dass das "neue Subjekt der Demokratie", das 1917 auftrat, sehr schnell, sehr gründlich und auf Dauer beseitigt wurde. Auch wenn er in Stalins Verfassung von 1936, die nie in Kraft trat, "eine völlig neuartige Handschrift" sieht, die die liberalen Demokratien zu mehr "fortschrittlicher Demokratie" und Sozialstaatlichkeit gedrängt habe, reibt man sich die Augen.

Vollends in den Verdacht, den Stalinismus schönreden zu wollen, kommt Canfora, wenn er meint, "das System von Scheinwahlen" in den "Volksdemokratien" werde irgendwie entlastet, wenn er auf die "dicke Schicht Propaganda" oder auf die "fortgeschrittene Rechtskultur" in der DDR hinweist, oder die Verantwortung für den Ungarn-Aufstand auf den Propagandasender Radio Freies Europa abwälzt. Canfora zitiert zustimmend Stalins Wort von der "Liquidierung der Rückständigkeit", erwähnt aber die Opfer von dessen Terrorregime mit keinem Wort. Die stalinistischen Verbrechen erscheinen genau einmal - als "Verbrechen" in Anführungszeichen. Canforas Devise, "man muss die Dinge beim Namen nennen" und sagen, warum was "falsch gelaufen ist", kann ihn da nicht geleitet haben.

Natürlich ist es richtig, dass sich Canfora von der hierzulande üblichen Schwarz-Weiß-Malerei und Diabolisierung des Stalinismus abhebt und darauf hinweist, dass sich liberale Demokratie, Kommunismus und Faschismus in einem politischen und ideologischen Dreikampf befanden, in dessen Verlauf sich Kommunismus und liberale Demokratie mit guten Gründen gegen den Faschismus und Nationalsozialismus verbündeten und ihn schließlich militärisch gemeinsam bezwangen. Die Erinnerung an diese historische Konstellation wird seit 1989 mit viel Energie und aus durchsichtigen Motiven bekämpft.

Insgesamt hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Man kann Canforas beiden Grundthesen durchaus zustimmen, aber in der Durchführung des Themas wimmelt es nur so von falschen Zungenschlägen. Es ist selbst im Blick auf Berlusconis Italien absurd, von "geistiger und moralischer Gleichschaltung" zu reden oder im Blick auf Russland davon, die CIA habe "das Wahlspektakel 1991 direkt" gesteuert, wozu es kaum stichhaltige Belege gibt. Ganz im Gegensatz zur Lage in Italien Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre, als die CIA für den Fall, dass Kommunisten und Sozialisten an die Macht kämen, Pläne vorlegten, das Land in einen Guerilla- beziehungsweise Bürgerkrieg zu stürzen wie zuvor - erfolgreich - in Griechenland. Was besonders stört an dem Buch, ist der späthegelianisch auftrumpfende geschichtsphilosophische Gestus, mit dem Canfora - wie lange vor ihm Jean Jaurès (1859-1914) und Lenin - immer noch glaubt, dem Publikum die jakobinische Schreckensherrschaft (la grande terreur) als "notwendige Gerechtigkeit" andrehen zu können.

Fazit: die Einwände des Verlags und der Gutachter gegen Canfora haben auch ein sachliches Fundament und damit eine gewisse Berechtigung. Keinesfalls reichen sie aber dafür aus, das Buch in Bausch und Bogen als indiskutabel zu verdammen. Für eine Debatte über den Weg und Ziele der repräsentativen Demokratie ist die Zeit längst gekommen.

Luciano Canfora: Das Auge des Zeus. Deutsche Geschichtsschreibung zwischen Dummheit und Demagogie. Antwort an meine Kritiker. Aus dem Italienischen von Christa Herterich. Konkret Verlag, Hamburg 2006, 91 S., 10 EUR

Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur Europäischen Union. Aus dem Italienischen von Rita Seuß. PapyRossa, Köln 2006, 404 S., 24,90 EUR


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