Dekret statt Demokratie

Frankreich Präsident Hollande und Premier Valls versuchen, politische Brandherde mit Benzin zu löschen
Ausgabe 20/2016
„Der 49/3 gießt Öl ins Feuer“, sagt Gewerkschaftschef Philippe Martinez
„Der 49/3 gießt Öl ins Feuer“, sagt Gewerkschaftschef Philippe Martinez

Foto: Pascal Guyot/AFP/Getty Images

Nach den Pariser Attentaten vom 13. November 2015 rief François Hollande sofort den Not- und Kriegszustand aus, um für kurze Zeit eine Stimmung der Selbstbehauptung und nationalen Einheit zu erzeugen. Sie sollte sich bald schon durch polizeiliche Willkür beim Vollzug von Notstandsmaßnahmen wie Razzien, Festnahmen und Hausarrest verdüstern. Vollends verflogen war jede Eintracht, als sich der Präsident monatelang dem aussichtslosen Vorhaben hingab, verurteilten Terroristen mit doppelter Staatsbürgerschaft die französische abzuerkennen. Am Schluss musste er das im eigenen Parti Socialiste (PS) höchst umstrittene Projekt lautlos begraben.

Das Ganze wirkt heute wie das Vorspiel für ein ähnlich unglückliches Agieren bei der im Februar von Arbeitsministerin Myriam El Khomri mit Aplomb angekündigten Reform des Arbeitsrechts.

Es sollte der schier undurchdringliche Dschungel des Code du travail mit seinen 3.600 Seiten gelichtet werden. Man wollte das Arbeitsrecht „vereinfachen“, dem „sozialen Dialog“ dienen und vieles flexibilisieren. Die Reform trug die Handschrift des liberalen Wirtschaftsministers Emmanuel Macron und gehorchte den marktüblichen Imperativen: „Mehr arbeiten! Weniger verdienen! Leichter gekündigt werden!“ Die Gewerkschaften deuteten das mitnichten als Einladung „zu mehr „Sozialpartnerschaft“, sie antworteten mit Protest und Streik. Der Aufruhr wurde im März zur Geburtsstunde der sozialen Bewegung Nuit debout („Nachts aufstehen“ bzw. „Wir waren eingeschlafen und werden erwachen“). Nuit debout entfaltete eine flächendeckende Wirkung, ließ in etwa 170 Städten zumeist junge Franzosen über ein anderes Leben in einer anderen Gesellschaft diskutieren und ein Bollwerk der Gerechtigkeit gegen die Arbeitsrechtsreform wachsen.

Am 31. März demonstrierten im ganzen Land weit über eine Million Menschen. Und das, obwohl ein Spalt durch die drei großen Gewerkschaftsverbände ging: CGT und Force Ouvrière standen gegen das Vorhaben, die dem PS nahestehende CFDT wollte die Gesetzesvorlage nur etwas abschwächen. Die Unternehmerverbände heizten den Konflikt an und stellten Maximalforderungen, die weit über die Vorlage von Ministerin El Khomri hinausreichten.

Daraufhin spielte die Regierung zunächst auf Zeit, war aber zu Abstrichen bereit, als sich in vielen Städten ein Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und Nuit debout anbahnte. Doch sollten sich Präsident Hollande und Premier Valls nun erst recht in eine Sackgasse manövrieren. Trotz einiger Konzessionen im Detail blieb es dabei, dass fast 80 Prozent der Bevölkerung die Reform als unsozial ablehnten, selbst in der sozialistischen Parlamentsfraktion wuchs die Minderheit derer, die der Regierung Valls widersprachen und nicht weniger als 3.400 Abänderungsanträge stellten. Die konservative Opposition wiederum solidarisierte sich mit den Unternehmerverbänden, die über „Halbmaßnahmen“ klagten, obwohl vorgesehen war, Arbeitszeiten betrieblich anzupassen und betriebsbedingte Kündigungen zu erleichtern. Bereits der Nachweis sinkender Umsätze soll künftig genügen, um das Personal reduzieren zu können.

Ausschluss der Abweichler

Zuletzt blieb der Regierung nur die Notbremse in Form von Artikel 49/3 der Verfassung, der es erlaubt, ein Gesetzeswerk am Parlament vorbei als Dekret durchzusetzen. Unter anderem wegen dieses vordemokratischen Paragrafen hatte der einstige Präsident François Mitterrand (im Amt 1981 – 1995) die Magna Charta von 1958 als „permanenten Staatsstreich“ charakterisiert. Bisher wussten freilich alle Regierungen der V. Republik die autokratische Ermächtigung von 49/3 zu schätzen. Der Artikel war mehr als 80 Mal in Gebrauch. Dass Hollande und Valls darauf zurückgreifen, um die innerparteiliche Opposition zu entmündigen, hat den außerparlamentarischen Protest gegen die Arbeitsrechtsreform eher angeheizt als eingedämmt. Nuit debout bleibt aktiv, für den 17. sowie 19. Mai sind Streiks der Lastwagenfahrer und Eisenbahner ebenso angekündigt wie im öffentlichen Nahverkehr und auf den Flughäfen. CGT-Chef Philippe Martinez: „Nichts ist beendet, das geht weiter. Der 49/3 gießt Öl ins Feuer.“

Immerhin rafften sich Teile der Nationalversammlung zu einem Misstrauensvotum gegen die Regierung auf. Nur scheiterte der Antrag der konservativen Republikaner mit 246 an der absoluten Mehrheit von 288 Stimmen. Was mehr ins Gewicht fällt: Die Sozialisten sehen sich durch die eigene Regierung wegen der Arbeitsrechtsreform ein Jahr vor der Präsidentenwahl an den Rand einer Spaltung gedrängt. Die Abweichler sollen aus der Partei verbannt werden.

Die Bilanz des Husarenritts: Der Präsident steht noch schlechter da als zuvor, der Premier verfügt über keine parlamentarische Mehrheit mehr, die Arbeitsministerin hat ihre erste Bewährungsprobe verloren, die Sozialistische Partei erodiert weiter.

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