Unter den heutigen medialen Verhältnissen laufen triviales Schmierentheater und demagogische Show häufig parallel und verstärken Ressentiments. Das gilt derzeit besonders für eine Debatte in Frankreich – der über das Verbot von Burkinis an den Stränden der Normandie oder Côte d’Azur. Der Vorschlag von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, das Staatsbürgerschaftsrecht auf der Basis des Bodenrechts (droit du sol) – wer in Frankreich geboren wird, ist Franzose, ohne Rücksicht auf Abstammung, Religion und Sprache – zu verändern, ist unter diesen Umständen geeignet, aus religiösen und kulturellen Differenzen Brandbeschleuniger zu machen. Sein Plan läuft auf das Herumfuchteln mit brisanten Vorurteilen hinaus (wie das auch die Diskussion in Deutschland über die doppelte Staatsbürgerschaft zeigt).
Dabei gilt das droit du sol in Frankreich nicht uneingeschränkt wie in Kanada oder in den USA. Hier erwirbt selbst ein im Luftraum über Asien in einem US-Flugzeug geborenes Kind die amerikanische Staatsbürgerschaft – unter Mithilfe des Piloten, der zum Hilfsstandesbeamten mutiert. In Frankreich erhalten die Nachkommen von in diesem Land lebenden Ausländern erst im Alter von 13 bis 18 Jahren automatisch die französische Staatsbürgerschaft. In einem konfusen Alleingang nach den Anschlägen vom 13. November 2015 stellte Staatschef François Hollande den Plan zur Diskussion, Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft die französische wieder zu entziehen, wenn sie Verbindungen zum Terrorismus hatten oder haben. Nach monatelangem Streit, der die Parti Socialiste (PS) an den Rand der Spaltung brachte, mussten der Präsident und Premierminister Valls das Vorhaben abblasen – mangels eigener Mehrheit. Mit den Leihstimmen der Konservativen wollte die Regierung das reaktionäre Projekt dann doch nicht verwirklichen.
Präsidentenbewerber des bürgerlichen Lagers
François Fillon (62)
Als Foulletourtois aus dem ländlichen Raum an der Loire stammend, war Fillon lange ein linker Gaullist. 2007 dann sprach er sich klar für einen Präsidenten Sarkozy aus, wurde nach dessen Wahlsieg prompt Premier und blieb es bis 2012. Bisher sind Fillons Chancen überschaubar. Bei der Partei Les Républicains wollen ihn elf Prozent.
Nicolas Sarkozy (61)
Staatschef von 2007 bis 2012, will sich Sarkozy für die Niederlage gegen den Sozialisten Hollande von 2012 revanchieren, auch wenn die Umfragewerte zur Zurückhaltung mahnen. Seit 2014 Parteichef, versucht er die Republikaner auf einen rechtsnationalen Kurs festzulegen, der auch zu mehr Unabhängigkeit in der Europäischen Union führt.
Alain Juppé (71)
Als Anwärter auf die Präsidentschaft ist Juppé bürgerliches Alibi für Les Républicains. Er kann verhindern, dass es zu weit nach rechts in Richtung Front National geht. Mitte der 90er Jahre war Juppé Premier, später Verteidigungs- und Außenminister; die Präsidentschaft wäre die Krönung seiner Karriere.
Bruno Le Maire (47)
Als Agrarminister unter Präsident Sarkozy war davon kaum etwas zu bemerken, danach jedoch empfahl sich Le Maire als Literat mit Erinnerungsvermögen. In seinem Buch Zeiten der Macht. Hinter den Kulissen internationaler Politik (dt. 2014) zeigt er sich als Intimkenner der Spannungen zwischen Sarkozy und Angela Merkel. Lutz Herden
Genau das Gleiche, was Hollande vorschlug, verlangt der rechtspopulistische Front National (FN) schon seit Jahrzehnten. Das hinderte Nicolas Sarkozy, der sich von seiner Partei im November zum Präsidentschaftskandidaten für 2017 wählen lassen möchte, nicht daran, das bisher fast nur vom FN bewirtschaftete Thema droit du sol aufzugreifen.
Er tat das nicht in irgendeinem Organ, sondern in der weit rechts von den konservativen Republikanern agierenden Zeitschrift Valeurs actuelles. Die Publikation wurde bereits wegen der rassistischen Diffamierung von Roma zu Geldbußen verurteilt. Ausgerechnet in diesem Blatt vom dumpf rechten Rand improvisierte Sarkozy über sein Lieblingsthema – die „nationale Identität“. Er wandte sich zwar gegen die völlige Beseitigung des droit du sol, trat aber für dessen „substanzielle Änderung“ ein. Die französische Staatsbürgerschaft sollte nach seiner Ansicht den in Frankreich geborenen Kindern von Ausländern nicht mehr „automatisch“ verliehen werden. Noch 2012 hatte Sarkozy dagegen im Wahlkampf beteuert: „Wir behalten das droit du sol bei. Es ist Frankreich.“ Seit 2015 nahm er schrittweise davon Abstand und näherte sich dem FN mit der auch in Deutschland beliebten Bauernfänger-Parole, man dürfe Fragen wie die des Staatsbürgerschaftsrechts nicht Marine Le Pen vom Front National überlassen.
Kafkaeske Anmaßung
Inzwischen wandte sich Sarkozy nicht nur gegen den Automatismus, sondern setzte noch einen drauf: „Uns ist der Krieg erklärt worden. Frankreich muss unerbittlich bleiben. (…) Es darf sich nicht in abwegige Debatten verirren. Der Rechtsstaat zum Beispiel hat nichts zu tun mit Moses’ in Stein gemeißelten Gesetzestafeln. Was gibt es denn Wandlungsfähigeres als das Recht?“ Außer dem Bodenrecht, das er amputieren will – wie 1992 eine ganz große Koalition aus Union, FDP und SPD das Asylrecht –, stellt Sarkozy gleich noch den Rechtsstaat zur Disposition, der gegebenenfalls auf Notstandsmaßnahmen nach möglichen Terrorattacken zurückgreift.
Laut Umfragen wollen drei Viertel der Franzosen Sarkozy nicht noch einmal als Präsidenten erleben. Trotzdem hat er – als vierter und letzter Konservativer nach Alain Juppé, François Fillon und Bruno Le Maire (siehe Übersicht) – am 22. August seine Kandidatur angekündigt. Den drei Rivalen spielt er in den Debatten über die Staatsbürgerschaft ebenso die Melodie vor wie beim Thema Kampf gegen den Terror. Damit setzt er sie medial unter Druck. Exemplarisch ist der Rückzieher des in den Umfragen bisher führenden Juppé. Der hat über Nacht seine Position revidiert. Sie lautete: „Das Abrücken vom droit du sol wäre eine Infragestellung unseres sozialen Modells, das darauf beruht, Menschen unterschiedlicher Herkunft zu integrieren.“ Nun spricht der Ex-Premier plötzlich von „Schwächen“ und vom „Missbrauch“ des droit du sol. Und er kommt Sarkozy auf halbem Weg entgegen: Die Staatsbürgerschaft solle in Frankreich geborenen Jugendlichen ausländischer Eltern nur dann verliehen werden, „wenn sich zur Zeit der Geburt des Kindes wenigstens ein Elternteil legal im Land aufgehalten hat“. Wie denn, fragte umgehend der Historiker Patrick Weil, sollte ein 13- bis 18-jähriger Jugendlicher nachweisen, dass sich ein Elternteil zur Zeit seiner Geburt legal in Frankreich aufgehalten hat? Weil nannte diese Beweislast schlicht „inhuman, kafkaesk und unnütz“.
Die Regierung konterte Sarkozys Provokation mit dem Verweis auf Erfolge in ihrem „Krieg gegen den Terror“: „Fünf neue Gesetze, 9.000 neue Stellen bei der Polizei, 3.609 Hausdurchsuchungen unter dem Schutz des Ausnahmezustands, 80 Imame ausgewiesen, 71 Internetseiten gesperrt, 800 Luftangriffe in Syrien geflogen“ (Manuel Valls). Und als Draufgabe verlangt der Premier: „Jeder Citoyen muss ein Akteur der kollektiven Sicherheit werden.“
Sarkozy überbot Manuel Valls’ schwarze Vision spielend mit der Forderung, Terrorverdächtige gehörten präventiv weggesperrt. Vestigia terrent, die Spuren schrecken (mich) ab, schrieb Horaz. Oder anders gesagt: Wir sollten uns nicht auf diesen Weg begeben.
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