Der große Graben

Frankreich Die Bewegung der Gelbwesten zeigt Stehvermögen. Ihr Protest legt Risse frei, die durch Macrons Regierung gehen
Ausgabe 03/2019
Schneidig statt versöhnlich: Emmanuel Macron teilt auch Kuchen
Schneidig statt versöhnlich: Emmanuel Macron teilt auch Kuchen

Foto: Ian Langsdon/AFP/Getty Images

Von Erfolgen oder gar vom Sieg der Protestbewegung der „gilets jaunes“ zu reden, wäre verfrüht – trotz der Konzessionen, die sie Emmanuel Macron abgerungen hat. Eines zumindest hat sie erreicht: eine weitgehende Delegitimierung des Präsidenten, der noch bei 23 Prozent der Bürger Zustimmung findet, während nach zwei Monaten des Protests über 50 Prozent der Franzosen hinter dem Aufstand stehen. Und das trotz des medialen Gegenwinds und der negativen Resonanz auf nicht zu rechtfertigende Gewaltexzesse von Schlägertrupps, Hooligans sowie rechts- und linksradikalen Ultras. Zweierlei hat die Bewegung schon jetzt aufgedeckt: Es gibt Risse zwischen Macron und seiner Regierung. Zum Zweiten hat ein kollektives Aufbegehren trotz einer diffusen Struktur Konflikten Geltung verschafft, bei denen es um sehr viel mehr geht als eine steigende Benzinsteuer.

Hyperentschlossenheit

Präsident, Regierung und politische Klasse reagieren darauf nicht mehr als monolithischer Block, sondern zeigen Verständnis und Toleranz oder Ablehnung und entschiedene Härte. Mounir Mahjoubi, Staatssekretär für Digitalisierung, plädiert dafür, die Forderungen der „gilets jaunes“ ernst zu nehmen. Sie stünden für „größere soziale wie fiskalische Gerechtigkeit“ und bildeten deshalb „eine Chance für Frankreich“. Die überwiegende Mehrheit der Protestierenden sei „weder gewalttätig noch aufrührerisch, noch rassistisch, antisemitisch oder homophob“. Genauso äußert sich Sylvain Fort, der Kommunikationsbeauftragte des Präsidenten.

Den Toleranten begegnen Hardliner wie Innenminister Christophe Castaner, der die „Hypergewalt“ der Gelbwesten mit einer „Hyperentschlossenheit“ parieren möchte, wie das auch Budgetminister Gérald Darmanin vorschwebt: „Gegen Ultragewalt braucht man Ultrastrenge.“ Irgendwo zwischen der Nachsicht Mahjoubis und der Kante Castaners bewegen sich Premierminister Philippe und Macron selbst. Philippe möchte ein „Antischlägergesetz“, das der Polizei gegen Demonstranten in etwa die gleichen Kompetenzen einräumt wie gegen mutmaßliche Terroristen: Leibesvisitationen und Identitätskontrollen in definierten Sicherheitsbereichen. Zugleich soll es Demonstrationsverbote für Personen analog zu den Stadionverboten für Hooligans geben. Vor allem möchte Édouard Philippe Schläger („casseurs“) als Zahler („payeurs“) für die von ihnen verursachten Schäden heranziehen. Ob Gerichte dabei mitspielen, die an Gewaltakten irgendwie Beteiligten oder dabei nur Zuschauenden zu Entschädigungsleistungen zu verurteilen, ist ebenso umstritten wie offen. Jedenfalls setzt Philippe auf die Präsenz des Staates. Für das zurückliegende Protestwochenende vom 12/13. Januar mobilisierte er 80.000 Polizisten gegen eine in etwa gleiche Zahl an Demonstranten.

Der Präsident äußert sich seit Mitte November nur selten, zuweilen provokativ, wenn er die „gilets jaunes“ einen „hasserfüllten Haufen“ nennt. In einer Rede zum neuen Jahr sprach er unverbindlich von „großer Zwietracht im alten Jahr“ und versprach, 2019 werde „unserer Demokratie ihre ganze Vitalität“ wiedergegeben. Der erste Versuch, dies anzugehen, wurde zum Rohrkrepierer. Macron wollte eine „Große Debatte“ ausrufen. In einem ersten Schritt legten 5.000 Bürgermeister nach dem Vorbild von 1789 „Cahiers de doléance“ (Beschwerdehefte) aus, in denen die Bürger ihre Vorstellungen und Nöte zu Protokoll geben können. Danach sollte landesweit eine „Große Debatte“ dezentral ablaufen. Der Pferdefuß: Nach Vorgabe des Elyseé waren lediglich vier Themen dafür vorgesehen, also kein offener Diskurs, zumal eine ehemalige Ministerin mit dessen Steuerung betraut wurde. Als öffentlich wurde, dass diese für ihre präsidial programmierte Zuarbeit ein Monatsgehalt von gut 14.500 Euro einstreichen sollte, trat sie entnervt zurück.

Projekt Plebiszit

Ob die „Große Debatte“ überhaupt stattfindet, ist auch deshalb fraglich, weil ein Riss durch die Regierung geht. Das Problem, wie die äußerst vielfältigen Beschwerden und Anregungen der Bürger debattenreif gebündelt werden können, ist ungelöst. Regierungschef Philippe und die eher rechtsstehenden Minister wollten die Debatte von Anfang an allein auf die Frage des ökologischen Umbaus durch die Besteuerung von Benzin beschränken, während die eher Konzessionswilligen im Kabinett mit einer breiten Diskussion über Steuer-, Staats- und Demokratiereformen eine Aufbruchsstimmung erzeugen wollen wie im Wahlkampf 2016/17 – ein Experiment, das der Premierminister wegen seines ungewissen Ausgangs für politisch riskant hält.

Für Brüche und Spaltungen sorgt die Protestbewegung auch innerhalb der Parteien wie zwischen einzelnen Gruppierungen. Besonders heftig sind die Sozialisten der Génération.s von Benoît Hamon und La France insoumise unter Jean-Luc Mélenchon aneinandergeraten. Hamon bezichtigt Mélenchon, „das Ufer linker Politik verlassen“ zu haben, als dieser sich mit dem zweimal festgenommenen Aktivisten Eric Drouet von den „gilets jaunes“ solidarisierte. Von dem sei bekannt, dass er zweimal für Marine Le Pen gestimmt habe. Über die Haltung zu den Gelbwesten tobt auch bei den rechtsbürgerlichen Les Républicains ein interner Disput zwischen den Hardlinern um Parteichef Laurent Wauquiez und moderaten Konservativen. Die wiederum werfen dem ultrarechten Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen vor, die Situation für sich ausschlachten zu wollen.

Dabei reflektieren die Kontroversen in und zwischen den Parteien, was für die Protestbewegung von Anfang an typisch war: Sie hat sich politisch artikuliert und war getragen von rational unterlegtem Zorn über die Reformen eines „Präsidenten der Reichen“. Ein Beiname, wie ihn sich Macron redlich verdient hat. Ein Teil der Bewegung, die nach wie vor in der Provinz verankert bleibt – nicht in den großen Städten – erwägt die Teilnahme an den Kommunalwahlen 2020, ein anderer Teil tritt für ein Grundeinkommen ein.

Anspruchsvoller ist das Projekt, den verfassungsrechtlichen Rahmen der V. Republik durch die Möglichkeit von Plebisziten zu erweitern, bei denen es auch um die Amtsenthebung des Präsidenten durch eine Mehrheit der Bürger gehen kann. Dieses Vorhaben, dessen Umrisse noch so unklar sind wie seine Intentionen und Durchsetzbarkeit, heißt Référendum d’inititative citoyenne (RIC), was mit „Volksentscheid durch Initiativrecht für Bürger“ zu übersetzen wäre. Vorbild ist eine direkte Demokratie nach Schweizer Muster. Verzichtet wird freilich auf die dort übliche verfassungsrechtliche Trennung zwischen Referenden: Das heißt, Volksabstimmungen über Entscheidungen von Parlament und Regierung sowie Initiativen, die aus Anträgen von Bürgern zur Korrektur der Verfassung resultieren.

Ob der Gelbwesten-Protest den langen Atem hat für einen derartigen Umbau der V. Republik, ist im Augenblick nicht abzusehen. Für Regierungssprecher Benjamin Griveaux zeugen schon die vagen Konturen des Projekts RIC vom „Angriff auf Staat und Demokratie“ beziehungsweise von einem „Umsturzplan“.

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