Der Stachel des Befehls

Geständnis und Demütigung Die Folterungen im Irak sind Teil des militärischen Milieus

Die schrecklichen Bilder von erniedrigten und gefolterten Gefangenen der amerikanischen Armee verlangen Erklärungen. Die anspruchsloseste Variante stand in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, deren Politikredakteur Thomas Schmid über "die Opfer von Lynndie R. England" nachdachte und vorschlug, der Präsident sollte die Opfer "um Vergebung" bitten. Ist die 21-jährige Soldatin aus der 372. Militärpolizei-Einheit überhaupt die Täterin? Das Bild, auf dem die Soldatin einen nackten Gefangen wie einen Hund an der Leine führt, scheint das zu belegen. Doch bleibt diese grobschlächtige Deutung an der Oberfläche und verzerrt die Verantwortungsverhältnisse grotesk.

Natürlich hat sich das subalterne Personal, das sich bei Demütigung und Folterung beteiligte, eines schweren Unrechts schuldig gemacht und ist dafür zur Verantwortung zu ziehen. Das verlangen die Haager Landkriegsordnung (1907), die Genfer Konventionen (1929 und 1949) sowie die Zusatzprotokolle. Aber ein militärgerichtliches Disziplinarverfahren allein gegen die fotografierten Täter griffe zu kurz.

Erniedrigung und Folter, deren Ausmaß erst in Umrissen absehbar geworden ist, kann nicht im zivilen, strafrechtskonformen Bezugsdreieck von Tat-Täter-Opfer analysiert werden. Entscheidender als der Wille und die Motive der fotografierten Täter ist in diesem Fall der Kontext der Taten. Diesen Kontext bilden das militärische Milieu im Allgemeinen und die Position des Siegers im Krieg im Besonderen.

Das militärische Milieu wird charakterisiert durch seine hierarchische Befehlsstruktur und durch die Mittel, mit denen diese bei Soldaten wie Offizieren mental und habituell verankert wird. Idealerweise geschieht in Armeen nur, was von oben befohlen oder stillschweigend toleriert wird. Es ist absolut unrealistisch für das Milieu, in dem die Gefreite England handelte, zu unterstellen, die Täterin hätte sich im Alleingang und in "Folterlaune" dazu entschlossen, Iraker zu demütigen. Es befreit die Soldatin nicht von ihrer Verantwortung für das, woran sie beteiligt war, wenn man die Hauptverantwortung für ihre Taten in diesem Milieu und in dieser Situation den oben Kommandierenden und nicht den unten Agierenden zurechnet.

Dieses Argument ist keine Hintertür für die trübe Ausrede mit dem Befehlsnotstand der kleinen Täter. Für die Erniedrigung und Folterung von Gefangenen muss kein Befehl vorliegen. Im Algerienkrieg (1954-62), als systematisch gefoltert wurde, genügte es, dass die kommandierenden Offiziere "außergewöhnliche Mittel" empfahlen, um zu "Erkenntnissen" zu kommen. Die Ausführenden - Offiziere wie Soldaten - verstanden das korrekt als Freibrief, den Gefangenen Geständnisse mit allen Mittel bis hin zum Mord abzupressen. Die bislang bekannt gewordenen Bilder zeigen nicht solche brutalen Folterszenen, mit denen Gefangenen Informationen abgepresst worden sind wie damals den FLN-Kämpfern, als Spezialtruppen mit Stockschlägen folterten, mit Elektroschocks und der berüchtigten Pumpe, die den Gefangenen große Mengen Wasser in den Körper presste. Das Ziel, damit "Erkenntnisse" zu gewinnen, räumte der Hauptverantwortliche, der Oberst und Freund De Gaulles, Jacques Massu, freimütig ein. Die bisher bekannt gewordenen Bilder aus dem Irak dagegen belegen eher, dass es den Soldaten und ihren Vorgesetzten nicht um Erkenntnisse oder Geständnisse ging, sondern vor allem darum, die Gefangenen zu demütigen: Muslimen gelten Hunde als unreine Tiere, und Nacktheit - obendrein vor Soldatinnen - ist ein Tabu. Die kulturell-religiöse Würde der Gefangenen sollte demonstrativ verletzt, und diese selbst erniedrigt werden, um mit der eigenen Überlegenheit aufzutrumpfen. Dasselbe gilt für die Schändung eines Friedhofs mit Panzern.

Die Voraussetzung dafür, dass hierarchische Befehlsstrukturen den Soldaten mental und habituell zur zweiten Natur werden, wird in der Ausbildung geschaffen. Es ist bekannt, welchem brutalen Drill amerikanische Elite- und Militärpolizeieinheiten bei der Ausbildung unterworfen sind. Hier wird den Soldaten das eingepflanzt, was Elias Canetti "den Stachel des Befehls" nannte: Dieser "senkt sich tief in den Menschen ... und bleibt dort unverändert liegen", genauso wie die Erinnerung an die Qualen und Erniedrigungen, die der Soldat beim Drill aushalten musste.

Im Krieg wird jeder Soldat auf der Seite der Sieger gegenüber Gefangenen und Zivilisten zum Befehlenden. Nur der "Stachel des Befehls" in jedem verhindert, dass die hierarchische Befehlsstruktur zersetzt wird. Von oben bis unten sind Offiziere und Soldaten mit diesem Stachel "geimpft". Aber den Moment des Sieges erleben kommandierende wie ausführende Militärs auch als Chance, die gefangenen Besiegten ihre Willkür und ihre Revanche für tote Kameraden spüren zu lassen oder mit Gefangenen perverse Spiele zu treiben oder diese zu foltern. Gewalt entlädt sich in solchen Situationen regelmäßig mit einer Dynamik, der gegenüber soldatische Ehrenkodexe, Dienstvorschriften und völkerrechtliche Konventionen ohnmächtig sind. Von rechtlichen Bindungen befreit, verpassen die Sieger den Besiegten kollektiv jenen "Stachel des Befehls", den sie selbst in sich tragen. Die Beispiele dafür sind in der Siegergeschichte Legion, die Ausnahmen an zwei Händen abzuzählen.

Im Irak-Krieg wurde die Dynamik der Gewalt gegenüber den Besiegten von höchster Stelle aus angeheizt. Denn die Soldaten sahen sich und ihr Verhalten gedeckt durch die Entscheidung der politischen Führung, Kriegsgefangene in Guantanamo als rechtlose Parias zu behandeln und dubiosen Ermittlungspraktiken zu unterwerfen. Der kulturelle Hochmut, mit dem der Irak-Krieg - angeblich im Namen von Demokratie und Menschenrechten - von oben herab gepredigt wurde, beförderte bei den Militärs aller Ränge einen missionarischen Eifer und enthemmte sie.

Zu solcher Enthemmung beigetragen haben aber auch jene Medien und Intellektuellen, die bereits nach dem 11. September 2001 eine Folter-Debatte auslösten. News Week überschrieb einen Artikel mit dem Titel: Zeit, über Folter zu sprechen. Der Harvard-Professor und Jurist Alan Dershowitz dachte über "Megaverbrechen" nach, denen vorzubeugen nur gelinge, wenn man das Folterverbot abschaffe und die Folter für bestimmte Konfliktszenarien einführe.

Die Diskussion über die Folter hängt in den USA am medialen Schwungrad. Auch der an der Münchener Bundeswehruniversität lehrende, konservative Historiker Michael Wolffsohn mischte sich jetzt ein: "Als eines der Mittel gegen Terroristen halte ich die Folter oder die Androhung von Folter für legitim." Die Geschichte der Folter und des Folterverbots beweist, dass sich von Menschenrechten und Rechtsstaat schon verabschiedet, wer sich auf die Diskussion über die Relativierung des Folterverbots einlässt. Die Geschichte der Folter und des Folterverbots enthält illustrative Belege für einen engen Zusammenhang von Folter und Staatsgewalt, wobei der Terror als Transmissionsriemen funktioniert.

Der oströmisch-byzantinische Kaiser Justinian, der von 527-565 regierte, ließ eine Sammlung des römischen Rechts zusammentragen - das Corpus Iuris Civilis. Für die Befragung von mutmaßlichen Delinquenten unterschied man darin zwischen "nuda interrogatio" ("bloßer Befragung") und "levis territio" ("leichter Schreckung"). "Territio", abgeleitet von lateinisch "terror" (Schrecken, Terror), ist über Jahrhunderte der Fachausdruck für die Einschüchterung von Aussageunwilligen. Im Abschnitt über die Befragung in Justinians Gesetzessammlung öffnet Terror das Tor für die Folter: Nichts sei zwar entstellender für das Recht, als "Terror gegenüber jenen Personen, die ... wegen Unschuld sicher sind". Richtigen Schutz vor Terror und Folter kommt jedoch nur jenen zu, die "durch ihre Ehre geschützt sind" - also die Herren. In der Rechtspraxis spielte die Unschuldsvermutung gegenüber einfachen Bürgern immer eine geringere Rolle als der Generalverdacht, der die Anwendung der Folter legitimierte. "Schreckung" (territio) und Folter gehörten so mehr als 1.000 Jahre lang zu den Mitteln, um staatliche Macht zu sichern und zu steigern. Die Dispute über die vermeintlich berechtigte Anwendung der Folter trugen dazu bei und begrenzten die Gewalt nicht.

Am Beispiel der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. (1519-1556) lässt sich das zeigen. 1532 erließ der Kaiser ein Strafrecht - die Carolina -, das die Folter explizit zuließ, um Geständnisse zu erbringen. Ohne ein Geständnis konnte fortan niemand mehr verurteilt werden. Gegenüber den archaischen Methoden der Beweiserhebung wie dem Gottesgericht war das Geständnis ein Fortschritt. Bei den Gottesgerichten wurden Verdächtige gefesselt ins Wasser geworfen. Blieben sie oben, galten sie als schuldig, weil das reine Wasser sie nicht haben wollte, gingen sie unter, waren sie zwar unschuldig, aber ertranken. Der Fortschritt wurde freilich teuer erkauft, denn ein Teil des im Prinzip öffentlichen Gerichtsverfahrens verlegte man fortan in die Folterkammern. Erst Anfang des 18. Jahrhunderts entzog Christian Thomasisus der Folter die juristische wie die moralische Grundlage: Es gibt genauso wenig Gründe für die Annahme, dass mit Gewalt abgepresste Geständnisse der Wahrheit entsprechen wie für die Behauptung, möglichst harte Strafen und die Theatralisierung von Gewalt durch öffentliche Hinrichtungen wirkten abschreckend.


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