Der weiße Mann hat gesprochen

Frankreich Präsident Macron will, dass die Vorstädte nicht länger Orte brachialer Animositäten sind. Nur wie soll das gehen?
Ausgabe 25/2018
Handschlag oder Armdrücken? Emmanuel Macron im Direktkontakt mit dem Wahlvolk
Handschlag oder Armdrücken? Emmanuel Macron im Direktkontakt mit dem Wahlvolk

Foto: Martin Bureau/AFP/Getty Images

Emmanuel Macron ist auf dem besten Weg, als Präsident Frankreichs in die Geschichte einzugehen, der aus diesem und jenem Anlass großartige Reden hielt, deren Wirkungen aber kaum spürbar wurden. Ein Beispiel dafür ist sein Umgang mit den Banlieues, den seit den 1970er Jahren entstandenen, mittlerweile teils völlig verrotteten Vorstädten. Im Wahlkampf versprach Macron, „die Banlieues aufzubrechen“. Den meisten Bewohnern hätte es wohl genügt, er hätte angekündigt, die trostlosen Orte rund um etliche Großstädte durch eine bessere Infrastruktur an diese Kerne anzuschließen. Vielen dieser Satellitensiedlungen fehlt das Scharnier zum öffentlichen Nahverkehr.

Es ist bekannt, dass die Banlieues als multikulturell instabile Orte und Räume der Frustration immer wieder einen heftigen Aufruhr erleben, der über das Maß eines öffentlich für zulässig gehaltenen Protestes hinausgeht. Zu derartigen Eruptionen kam es nicht zuletzt im Herbst 2005 durch Brandstiftungen, die Plünderung von Supermärkten und die Zerstörung öffentlicher Gebäude. Und das landesweit. Vorausgegangen war der Unfalltod von zwei Jugendlichen, an dem die Polizei nicht unbeteiligt war. Beide lebten in Clichy-sous-Bois, einem Pariser Vorort, der zum Epizentrum des Aufstands wurde.

Prompt verlangten nach Macrons Wahl Bürgermeister und Abgeordnete aus den Banlieues von „ihrem“ Präsidenten, sein Versprechen zu erfüllen. Macron tat, was Politiker im Umgang mit diesem Dauerproblem seit Jahrzehnten tun: erst einmal Dampf aus dem Kessel nehmen, dann eine Expertenkommission berufen, die einen Rapport erstellen und Lösungen präsentieren soll. Genau das tat der Staatschef vor sechs Monaten und gab Jean-Louis Borloo, dem ehemaligen Städtebauminister des Präsidenten Jacques Chirac, den Auftrag, „einen Reformplan für die Banlieues“ zu entwerfen. Um den zu entwickeln, kooperierte Borloo nicht nur mit Experten, sondern ebenso mit Kommunalpolitikern und Vereinen aus den Vorstädten. Am 26. April lieferte er einen 164 Seiten starken Bericht mit dem Titel Zusammen leben, die Republik zusammen erleben, für eine nationale Versöhnung beim Premier Edouard Philippe ab.

Daraufhin geschah einen Monat lang gar nichts, bis es zu einem Macron-Auftritt der typischen Art kam. Er lud ein paar hundert Kommunalpolitiker, Bürgermeister, Abgeordnete wie Gesandte der Zivilgesellschaft in den Élysée nach Paris und begann seine Rede mit dem Hinweis: „Ich werde keine Rede halten.“ Danach wurde 90 Minuten lang frei und improvisiert über allerlei geredet, natürlich über die Hauptgefahren „Gewalt“, „Drogen“, „Islamisierung“ und „Antisemitismus“, aber auch über „Unternehmungsgeist“, „Eigeninitiative“ und „Arbeitslosigkeit“. Konkret wurde Macron nur in einem Punkt – in seiner fundamentalen Abneigung gegen „Pläne“ für die Banlieues, die so alt seien wie er selbst. „Diese Methode ist am Ende“, beschied der Präsident seinen Zuhörern.

Mehr Polizei

Ungeachtet dessen, dass er selbst immer mal wieder einen Plan zur Reform der EU oder zur Rettung des Euro vorlegt, ging er mit Blick auf die Banlieues ins Grundsätzliche, was seine Abneigung betraf: „dass zwei weiße Männer, die beide dort nicht wohnen, einen Plan für die Banlieue vereinbaren, das macht doch keinen Sinn.“ Die damit implizierte Spaltung der Gesellschaft in „Weiße“ und „Nicht-Weiße“ ist im republikanisch-egalitär gesinnten Teil Frankreichs sehr schlecht angekommen.

Vor allem aber geriet der Auftritt zu einer frontalen, völlig abwegigen Kritik an Borloos „Rapport“. Der hat ja gerade nicht mit einer kleinen „weißen“ Expertenrunde gearbeitet, sondern mit Politikern, Beamten und Bürgern aus den Vorstädten. Sein Bericht spricht auch nicht die verlogene Sprache von Technokraten und Politikern, die Armenghettos als „Quartiere mit Vorrang“ oder „sensible Wohnzonen“ schönreden. Borloos Überlegungen beginnen mit den Sätzen: „Es ist keine Zeit mehr für Expertenberichte. Es ist Zeit zu handeln. Die Lage ist einfach zu begreifen: Annähernd sechs Millionen Einwohner leben in einer Art Sicherungsverwahrung, ja in Vergessenheit, die zeitweilig unterbrochen wird von halbherzigen staatlichen Anstrengungen, von Bürgermeistern an vorderster Front, die aus der Haut fahren oder das Handtuch werfen.“ Zählt man zu den sechs Millionen Franzosen im Mutterland noch jene aus den französischen Überseegebieten hinzu, sind es über zehn Millionen Menschen, denen Borloo zufolge „die wirkliche republikanische Gleichheit“ in der Gegenwart und das „Versprechen auf Gleichheit“ in der Zukunft vorenthalten würden, was einem „absoluten Skandal“ gleichkomme.

Macron will die politischen Interventionsmöglichkeiten auf egalitäre Rahmenbedingungen im Sinne von Rechtsgleichheit reduziert sehen und verspricht mehr Polizisten zur Erhöhung der Sicherheit sowie mehr Lehrer für die heruntergekommenen Lehranstalten in den Banlieues.

Frankreich hat derzeit unter den OECD-Ländern die höchste Quote an Analphabeten. Während Borloo womöglich deshalb die Grundzüge einer partizipativen Gesellschaft entwarf, votiert Macron für die „wachsame Gesellschaft“ und hat den Bürgermeistern und Lokalpolitikern zwei Botschaften vermittelt: Erstens: „Wir hören euch zu“ – das kostet praktischerweise gar nichts. Und zweitens: „Wir müssen sparen.“ Letzteres war direkt gegen den Borloo-Bericht gerichtet, der eine „nationale Mobilisierung“ und 48 Milliarden Euro für 19 detaillierte Reformprogramme fordert. Macron hingegen besteht darauf, dass Geld weniger helfe als Rechtsgleichheit und die Beseitigung von Stigmatisierung: „Die Jugendlichen aus den Vorstädten wollen keine Vorzugsbehandlung. Sie wollen stattdessen die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen“ – etwa beim Zugang zu Bildung und Arbeit. Borloo versteht seinen Plan jedoch nicht als Subventionierung, sondern als Investition in die Zukunft und schreibt: „Das Wachstum von morgen wird getragen von der Fähigkeit unserer Jugend zu Innovation und Qualifikation.“

„Würde von unten“

Die entscheidenden Defizite für die Vorstädte sind der Mangel beziehungsweise das komplette Fehlen von Einrichtungen für öffentliche Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung, Verkehrsanbindung, Freizeit) und eine ausstehende soziale, religiöse und ethnische Durchmischung, um Ghettos und Parallelgesellschaften zu überwinden. Als die Regierung die kommunalen Budgets zusammenkürzte, wurden dadurch die Handlungsspielräume der Gemeinden ebenso verkleinert wie mit dem Einfrieren von staatlichen Lohnzuschüssen für junge Arbeitslose. Wenig überraschend liegt die Erwerbslosigkeit in den Banlieues inzwischen dreimal höher als im Landesdurchschnitt. Außerdem schaffen – verglichen mit dem übrigen Frankreich – in diesem Milieu nur halb so viele Schüler das Abitur, gibt es dreimal weniger Lehrverträge als im Landesdurchschnitt, weil nur zwölf Prozent der Betriebe mit mehr als 250 Mitarbeitern der gesetzlichen Pflicht nachkommen, fünf Prozent als Lehrlinge einzustellen. In der Hälfte der Schulen fehlen Sonderschullehrer. 160 der 1.500 Quartiere, die vom Staat als städtebaulich reformbedürftig angesehen werden, haben keinerlei Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein Resümee von Missständen und Defiziten, das keinesfalls vollständig ist.

Problemen von dieser Dimension ist mit Macrons Rhetorik von einer „neuer Philosophie“ – er nennt sie „Politik der Emanzipation und Würde von unten“ – nicht beizukommen. Bodenständiger und realistischer klingt, was Borloo zur Finanzierung seines Plans vorschlägt: die Gründung eines Staatsfonds, der mit Erlösen aus der Privatisierung von Staatsbetrieben und Staatsbeteiligungen dotiert werden soll, hinzu kämen Mehrwertsteuereinnahmen. Leider ist zu befürchten, dass einem solchen Konzept bevorsteht, was Borloo selbst von früheren Plänen sagt: „Keiner davon wurde umgesetzt. Und je weniger es dazu kam, desto mehr wurde an Vorkehrungen, Zahlen und Prioritäten angekündigt – tatsächlich wurden öffentliche Mittel durch öffentliche Ankündigungen ersetzt.“ Die Ergebnisse dieser jahrzehntelangen Ankündigungspolitik sind in den Banlieues zu besichtigen.

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