Die andere Hölle

1953 Vor 60 Jahren wird Samuel Becketts Drama „Warten auf Godot“ in Paris uraufgeführt. Ein irischer Romancier feiert als Dramatiker einen Welterfolg
Diese Herrschaften waren 1953 die ersten, die Godot nie gesehen haben
Diese Herrschaften waren 1953 die ersten, die Godot nie gesehen haben

Foto: lipnitzki/ Roger Viollet/ Getty Images

Das Stück wurde innerhalb kurzer Zeit zum Inbegriff des modernen Dramas. Der Erfolg kam überraschend, denn Bertolt Brecht lebte noch und wurde viel gespielt, auch eroberten die amerikanischen Dramatiker von Arthur Miller bis Thornton Wilder gerade die europäischen Bühnen. Brecht habe sich „tief beeindruckt“ von Warten auf Godot gezeigt, schrieb der britische Theaterwissenschaftler Martin Esslin in seinem 1959 erschienenen Buch Brecht. Das Paradox des politischen Dichters, und soll bis kurz vor seinem Tod im August 1956 an einem Gegenstück gearbeitet haben.

Literaturgeschichtlich wird Becketts Werk unter dem Begriff „absurdes Theater“ eingeordnet, aber diese Kategorie umfasst so viel Gegensätzliches und so unterschiedliche Autoren wie Alfred Jarry (1873-1907) und Václav Havel (1936-2011), dass man davon abgekommen ist. Becketts Stück besteht aus zwei Akten, in denen fünf Figuren auftreten: das Clochard-Paar Estragon und Wladimir, das Paar Lucky und Pozzo sowie ein Junge. Es gibt im Stück weder einen benennbaren Ort noch eine nennenswerte Handlung. Alles spielt an einer Landstraße unter einem kahlen Baum. Estragon und Wladimir verbringen dort ihre Zeit mit Gesprächen, die von nichts handeln, nichts mitteilen und gar nichts bewirken. Sie warten einfach auf Godot, von dem sie so wenig wissen wie davon, warum sie warten.

Samuel Beckett hat sich zeitlebens nicht an Spekulationen darüber beteiligt, wer Godot ist oder sein könnte, aber immerhin bestritten, es handle sich um ein religiöses Stück – trotz der Ähnlichkeit des Wortes „Godot“ mit „God“ oder „Gott“. In einem Interview meinte er lakonisch: „Hätte ich gewusst, wer Godot ist, hätte ich es im Stück geschrieben.“

Ohne Geschichte, ohne Welt

Man hat die karge Landschaft, in der das Geschehen angesiedelt ist, häufig mit der Welt nach einem Atomkrieg in Verbindung gebracht. Historisch erscheint das nicht völlig abwegig, denn das Drama entstand in den Jahren 1948/49, doch spricht der sperrige Inhalt gegen eine derart konkrete Kontextualisierung. Auch Wladimirs Hinweis auf Selbstmorde und die Modekrankheit „Nervosität“ in der Zeit des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert kann man nicht wörtlich nehmen, wenn es heißt: „Hand in Hand hätten wir uns vom Eiffelturm stürzen sollen, so um 1900. Mit den ersten. Da sah man noch anständig aus. Jetzt ist es zu spät. Die würden uns nicht einmal rauflassen.“

Am überzeugendsten erscheint die Interpretation des österreichischen Schrifstellers Günther Anders in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen von 1956, wonach es in Becketts Parabel um die Darstellung von abstrakten Gestalten gehe. „Abstrakt“ ist dabei wörtlich zu nehmen im Sinne von „abgezogen“: Es geht um Menschen ohne Geschichte, ohne Welt, ohne Zukunft, ohne Antriebe und ohne Motive. Sie sind einfach da, und ihr einziges Tun besteht in purer Untätigkeit oder in Scheintätigkeiten wie dem An- und Ausziehen von Schuhen oder dem Auf- und Absetzen von Hüten. Günther Anders spricht von einem „Tun, als ob man täte“.

Sinn ist dieser Welt ebenso abhanden gekommen wie den abwechselnd banalen, komischen oder ironischen Worten und Sätzen. Beide Akte enden mit dem gleichen sinnlosen Dialog: Estragon – „Also, wir gehen?“ Wladimir – „Gehen wir!“ Darauf folgt die Regieanweisung: „Sie gehen nicht von der Stelle.“ Die beiden Clochards können ihrer Existenz wie ihrer sinnlosen Wörterwelt nicht entkommen, sie können und müssen nur weitermachen – eben warten. Godots Nichtkommen ist der Grund für ihr Warten und dafür, dass sie dies weiterhin glauben. Sie folgen der Logik eines absurden Gottesbeweises: „Er kommt nicht, also ist er.“

Chaotische Wortmontage

Wenn man in diesem Stück von Handlung reden will, so gibt es eine einzige. Der Grundbesitzer Pozzo tritt mit dem schwere Koffer tragenden Diener Lucky auf, den er an der Leine führt wie einen Hund, mit der Peitsche dirigiert wie ein Pferd und als „Schwein“ tituliert. Dieser Teil der Parabel schildert das Verhältnis von Herr und Knecht in Anlehnung an das entsprechende Kapitel in Hegels Phänomenologie des Geistes von 1806. So wie der Herr bei Hegel seine Begierde stillen und im Genuss zwar befriedigen kann, aber dabei auf die Arbeit des Knechts angewiesen ist, so lässt Pozzo seinen Diener Lucky, der so heißt, „weil er keine Erwartungen mehr hat“ (Beckett), für sich tanzen und denken. Pozzo zu Lucky: „Denke, Schwein!“

Daraufhin beginnt Lucky seinen monotonen Vortrag – eine chaotische Wortmontage in verwirrender Syntax, die nur Nebensätze aneinanderreiht, aber keinen Hauptsatz kennt. Der Monolog Luckys bildet den verborgenen politischen Kern des Stücks. Eben noch „Schwein“ genannt, belehrt Lucky seinen ungebildeten Herrn über den wahren Zustand der sozialen Beziehungen unter den Bedingungen von Entfremdung und nackten Herrschaftsstrukturen. Lucky entfaltet drei evidente Einsichten: Gott ist abwesend, der Mensch schrumpft zum Ding beziehungsweise Tier. Und alles Tun ist nur sinnlose Zeitverschwendung – „Surrogat“ und „endlose schwarze Nacht“. Das Jenseits der sinnlosen und chaotischen Weltzustände ist nur „die andere Hölle“ (Beckett). Lucky sagt nach diesem Monolog kein Wort mehr – er verstummt. Sein Herr, Pozzo, kommentiert das, selbst blind und zugleich einsichtig geworden, so: „Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eine Tages bin ich blind geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick. Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von Neuem die Nacht. Los voran!“

Gleich der erste Satz des Stücks verweist das Tun wie das Warten und die Hoffnung auf etwas anderes: in das Reich der Illusionen und Projektionen aus vergangenen Zeiten. Estragon beendet den trivialen Versuch, Schuhe anzuziehen, mit dem Satz: „Nichts zu machen.“ Und Wladimir antwortet: „Ich glaub es bald auch.“ Das Stück beginnt also gleichsam damit, dass es abgesagt wird.

Der „kahle Baum“ des ersten Aktes trägt zu Beginn des zweiten „einige Blätter“. Das zeigt jedoch weder ein Wiedererwachen der Natur noch der Geschichte an. Die Figuren erstarren in der gleichen Bewegungslosigkeit und geschichtlichen Aussichtslosigkeit. Beckett selbst verglich die Figuren einmal mit der melancholischen Traurigkeit Charlie Chaplins und Buster Keatons. Aber dieser Hinweis kann nicht die lange Haltbarkeit des Stücks auf den Theaterbühnen erklären. Es ging Beckett um die Zurüstung der Menschen und den Zerfall der Kultur unter den Bedingungen sozialer Entfremdung. Er reflektierte Herrschaft und Kampf um die Anerkennung von Individuen, denen ihre Individualität schon halbwegs ausgetrieben wurde. Günther Anders hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, Wladimir und Estragon seien „Großsiegelbewahrer des Sinnbegriffs in der manifest sinnlosen Situation“, da sie trotz ihrer elenden Existenz in Ohnmacht und Untätigkeit die Hoffnung nicht verlieren könnten.

In der Tat porträtiert Beckett sie nicht als Nihilisten, sondern wollte den Selbstwiderspruch und die Sackgasse des radikalen Nihilismus philosophisch demonstrieren: Zumindest der Nihilismus gilt diesem selbst nicht als nichts. Für diese Lesart spricht, dass Luckys letztes Wort in seinem „heulend“ vorgetragenen Monolog „Unvollendete!“ lautet.

Der Publizist Mathias Greffrath deutete den Aufstieg von Warten auf Godot zum „unverwüstlichen Klassiker“ vor drei Jahrzehnten ähnlich. Heute – also 1983 – lese man das Stück „weniger als eine Demonstration menschlichen Elends, die aufrütteln will, sondern als ein Widerstandsstück besonderer Art: Es ruft nicht auf zu Widerstand – es zeigt eine Form des Widerstehens.“

Rudolf Walther schrieb für die Zeitgeschichte zuletzt über den Bruch zwischen Jean-Paul Sartre und Albert Camus im Jahr 1952

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