Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 90 Jahre alt geworden. Vor etwas über zwei Jahren wurde mit der Edition einer auf zehn Bände geplanten Werkausgabe begonnen, von der bisher fünf erschienen sind. Allein das Faktum, dass eine solche Werkausgabe realisiert wird, verweist auf das außerordentliche Format des Politikers, denn ohne Zweifel käme niemand auf die Idee, die hölzerne Prosa Ludwig Erhards oder die verfetteten Reden Helmut Kohls in Werkausgaben zu sammeln.
Der fünfte Band der Edition sammelt Reden, Artikel, Vorträge, Briefe und Interviews, die sich um Willy Brandts Verhältnis zur SPD in den Jahren 1972 bis 1992 drehen. Brandt nannte die SPD in einer Rede anlässlich des 35. Jahrestages der Urabstimmung der Sozialdemokraten in den Berliner Westsektoren "Partei der Freiheit". In diesem für ihn typischen und sprichwörtlichen Pathos steckt zweierlei: die Erinnerung an seine tiefe Prägung durch die Abgrenzung des demokratischen Sozialismus vom stalinistischen Kommunismus und dem SED-Regime, aber auch seine Begabung, für historische Erinnerungen den richtigen Ton, eine einprägsame Formulierung oder eine unvergessliche Geste zu finden. Eine Welt trennt das Gerede von "der Gnade der späten Geburt" von Brandts stimmiger Inszenierung von Erinnerung, Scham und Versöhnung bei seinem Kniefall in Warschau.
Die Große Koalition (1966-69) und die sich daran anschließende sozial-liberale Koalition verabschiedeten endgültig den Adenauer-Staat und seinen ganzen Mief. Die innenpolitische Aufbruchstimmung und die Euphorie über die Ost- und Entspannungspolitik, für die Brandt 1971 den Friedensnobelpreis erhielt, verflogen nach 1972 schnell. Zwar erreichte Brandt mit den zum Plebiszit über die Entspannungspolitik erklärten Bundestagswahlen vom November 1972 das beste Wahlresultat der SPD (45,8 Prozent der Zweitstimmen), aber vom Schwung der ersten Regierungserklärung vom 28.10.1969 war fast nichts mehr zu spüren. Damals erteilte Brandt dem Erhardschen Konzept der "formierten Gesellschaft" mit dem Satz, "wie wollen mehr Demokratie wagen" eine Absage und sorgte damit für große Erwartungen. Die Hoffnungen auf Reformen, Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Demokratisierung schossen üppig in die Höhe.
Nach Brandts Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers im Mai 1974 wegen der bis heute ziemlich undurchsichtigen Guillaume-Affäre bestimmten die unterschiedlichen Naturelle und Charaktere von Helmut Schmidt (Bundeskanzler), Herbert Wehner (Fraktionsvorsitzender) und Willy Brandt als Parteivorsitzender die Politik der SPD. Während Schmidt Brandt verdächtigte, er wolle aus der SPD eine linkssozialistische Partei nach dem Vorbild des Italieners Pietro Nenni machen, kritisierte Brandt mehr oder weniger offen die Praxis des "Radikalenerlaßes" (28.1.1972). Den hat Brandt mitzuverantworten, aber er sah immerhin ein, dass er einen politischen Fehler begangen hatte. Bereits eineinhalb Jahre später forderte er eine Präzisierung des Erlasses und hielt den schwammigen Begriff "Verfassungsfeindlichkeit" für "konkretisierungsbedürftig". Gegen die Traditionalisten in der SPD, die die Partei als Arbeiterpartei profilieren wollten, obwohl der Arbeiteranteil von 55 Prozent (1959) auf 27 (1972) gesunken war, wollte Brandt die SPD zu einer Partei der "neuen Mitte" (22.9.1972) umformen. Im Gegensatz zur heute regierenden rot-grünen Koalition verband Brandt jedoch mit dem Konzept der "neuen Mitte" durchaus noch greifbare politische Inhalte und Ziele, darunter "neue Sozialrechte", "mehr Freiheit und Gerechtigkeit für bisher benachteiligte und zurückgesetzte Bürger" sowie "Mitverantwortung und Mitbestimmung der Bürger in allen Lebensbereichen".
Gegenüber Helmut Schmidts pragmatischer Wirtschafts- und Finanzpolitik hegte Brandt große Vorbehalte und warnte den Kanzler davor, mit "liberalistischen Ladenhütern ... einen Teil unserer Glaubwürdigkeit" (13.6.1976) zu gefährden. Obwohl seine integrierende Funktion als Parteivorsitzender anerkannt wurde, schwand Brandts politisches Gewicht in der Troika Schmidt-Wehner-Brandt. Die eher antiautoritäre und argumentative Parteiführung legte man Brandt als Führungsschwäche aus. Während Schmidt die Partei als Akklamationsorgan sah, hielt Brandt an der Vorstellung fest, die SPD müsse als "Willens- und Aktionsgemeinschaft" auftreten, die Streit und Konflikte offen austrage und nicht auf "Stromlinienförmigkeit" zu trimmen sei. Was für Brandt ein Beleg für innerparteiliche Diskussions- und Streitbereitschaft war, galt Schmidt als "flagellantistische Selbstdarstellung" und "Desorientierung" (7.1.1975). Dessen Abneigung gegen Intellektuelle (dem Arbeiter stellte er höhnisch den "Doktor der Philosophie oder der Ökonomie" gegenüber) teilte Brandt nicht einmal dann, wenn diese ihn kritisierten.
Einen breiten Raum beanspruchen Brandts Reden, die er aus historischen Anlässen gehalten hat. Dazu gehören die Gedenkreden für August Bebel, Willi Eichler und Otto Wels ebenso wie die Erinnerung an das Sozialistengesetz oder den 150. Geburtstag von Karl Marx, dessen Erbe Brandt nicht verleugnete: "Wir sind durch die Tür getreten, die auch der Denker Marx geöffnet hat."
Brandts Engagement für die Friedensbewegung und gegen den NATO-Doppelbeschluss, den Helmut Schmidt mitzuverantworten hat, war ein Grund für das Scheitern der sozialliberalen Koalition von Schmidt/ Genscher am 1.10.1982. Der Bruch mit Schmidt erfolgte jedoch schon ein Jahr zuvor, als Brandt im Bundestag erklärte: "Ich habe auf deutschem Boden Schlimmeres erlebt, als mich mit jungen Leuten auseinandersetzen zu müssen, die auf ihre Weise für den Frieden eintreten." Als Schmidt den Parteivorsitzenden bezichtigte, das Scheitern der Regierung Schmidt/Genscher verursacht zu haben, antwortete ihm Brandt bitter: "In Wirklichkeit musst Du selber wissen, dass Du ohne mich kaum länger, sondern wohl eher kürzer und vielleicht mit weniger Erfolg im Amt gewesen wärst." Die Troika brach auseinander.
So umstritten Brandts Führungsstil in der Partei war, so charismatisch war seine Ausstrahlung in der Öffentlichkeit. Mit seiner Annäherung an die sozialen Bewegungen, insbesondere an die Umweltbewegung und die Friedensbewegung vermehrte er sein Ansehen weit über die Parteigrenzen hinaus. Auch auf internationaler Bühne gelang Brandt wie keinem deutschen Politiker in der Nachkriegszeit nach dem Sturz ein politisches Come-back. Das belegen die Dokumente, die der neunte Band der Berliner Ausgabe mit dem Titel: Die Entspannung unzerstörbar machen. Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1974 -1982 versammelt. Der Friedensnobelpreisträger warb auf zahlreichen Auslandsreisen für die Entspannungs- und Friedenspolitik und gegen das Konzept "Frieden durch Stärke", wie es die amerikanischen Präsidenten Gerald Ford und Ronald Reagan vertraten.
Der Band sieben der Werkausgabe enthält 107 Dokumente zur sozialdemokratischen Gesellschaftspolitik, die 1969 mit dem Paukenschlag, "wir fangen erst richtig an," begann, aber außer in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik schnell ins Stocken geriet. Zwar wuchs das Sozialbudget von 1970 bis 1975 um ein Drittel, doch mit dem Einsetzen der Wirtschafts- und Energiekrise 1973 verlor die Gesellschaftspolitik der sozialliberalen Koalition schnell an Schwung. Von nun an beherrschten die Energiekrise, die Arbeitslosigkeit, Umweltprobleme und eine sich verschärfende Spaltung der Gesellschaft in Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer die politische Tagesordnung. Brandt sah die Entwicklung mit Bedauern, verfügte aber auch nicht über Gegenkonzepte. Bis zu seiner letzten großen Rede aus Anlass des 100. Geburtstags des Widerstandskämpfers Julius Leber am 15. November 1991 hielt er jedoch an seiner Grundüberzeugung fest: "Die Politik, die mich bewegt, ist jedenfalls nicht möglich, ohne dass man sich durch die Nöte und die Sehnsüchte der Vielen bewegen lässt, die man gar nicht alle kennen kann." - Alle Bände der Berliner Ausgabe sind mit Registern versehen und enthalten ebenso detaillierte wie informative Anmerkungen zu den abgedruckten Dokumenten.
Willy Brandt: Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD 1972-1992, Berliner Ausgabe, Band 5; bearbeitet von Karsten Rudolph,., Bonn 2003, 632 S., 27,60 EUR
Berliner Ausgabe, Band 9: Die Entspannung unzerstörbar machen, J.H.Dietz Nachf., Bonn 2003; 499 S., 27,60 EUR
Berliner Ausgabe, Band 7: Mehr Demokratie wagen, 685 S., Bonn, 2001. 27,60 EUR
Peter Merseburger: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2002, 927 S., 32 EUR
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