In der Pariser Retortenstadt La Villette ist es am Wochenende in aller Stille vonstatten gegangen - der Parti Socialiste (PS) hat auf einem Kongress fast einstimmig eine 21 Artikel umfassende "Grundsatzerklärung" verabschiedet, die einer Zäsur gleichkommt. Bei nur drei Gegenstimmen und 17 Enthaltungen votierten 518 Delegierte für einen radikalen Reformismus, der die Partei viel von dem kosten wird, wozu sie sich in der Vergangenheit - zwar oft nur verbal, aber immerhin - bekannt hat. Verglichen mit diesem Beben erscheint das Godesberger Programm der SPD von 1959 als kosmetische Prozedur.
Bei der Gründung der Sozialistischen Partei in Frankreich hatte Jean Jaurès 1905 erklärt: "Es ist die Reform, die revolutionär ist." Und das blieb der Hauptgrundsatz des PS bis zuletzt. 1969 verabschiedete die Partei in Epinay ein gemeinsames Programm mit der Kommunistischen Partei ("Programme commun"), das seinerzeit noch als "marxistisch" firmierte. 1990 bezog sich eine Grundsatzerklärung fast wörtlich auf Jaurès mit der Formulierung, die Sozialisten seien "reformistisch im Dienste revolutionärer Erwartungen".
Die nun in La Villette verabschiedete Deklaration stellt im Vergleich dazu eine verbale Revolution dar, weil sich das Wort "revolutionär" programmatisch entsorgt findet. Im Dokument ist stattdessen von einer "reformistischen Partei" die Rede, die sich zur "ökologisch-sozialdemokratischen Marktwirtschaft" sowie zum "Projekt der radikalen sozialen Transformation" bekennt. Dem folgt ein Zusatz: "Marktwirtschaft" wie "Transformation" müssten durch "den Staat sowie die Sozialpartner reguliert" werden, um "eine permanente Umverteilung" zu garantieren.
Gewiss ist das Bekenntnis der Sozialisten zu einem radikalen Reformismus einem rein rhetorischen zur Revolution vorzuziehen. Passagenweise kommt die Erklärung jedoch so pragmatisch daher, dass die Konturen einer linken Partei verschwinden. So gleich im ersten Artikel: "Sozialist zu sein heißt, sich nicht zufrieden geben mit der Welt, so wie sie ist." Dieser geschichtslose Pragmatismus kontrastiert mit dem Pathos des übernächsten Satzes: "Das Ziel sozialistischen Handelns ist die vollständige Emanzipation der menschlichen Person und die Rettung des Planeten." An anderer Stelle erklärt sich die Partei "zum Produkt der politischen und sozialen Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts", ohne ein Wort der Erläuterung, was das für die Gegenwart bedeutet.
Das Programm beschwört die Absicht, "den Sozialstaat, wie ihn der demokratische Sozialismus im vergangenen Jahrhundert" hervorgebracht habe, "zu reaktualisieren". Das ist einigermaßen pikant, denn die von 1981 bis 2002 mitregierenden Sozialisten haben - wie Blairs Labour Party und Schröders SPD - in Frankreisch nicht unerheblich dazu beigetragen, eben diesen Sozialstaat nach Kräften zu demontieren.
Der Hinweis, die Partei vertrete "das allgemeine Interesse des französischen Volkes", ist leere Phrase und wirft ein Licht auf das Zustandekommen der Erklärung. Sie wurde von einer Kommission formuliert, die darauf bedacht war, es allen Parteiflügeln - die man in Frankreich "Familien" nennt - recht zu machen. Und der Haussegen über diesen Familien hängt schief. Um die im November anstehende Nachfolge von Parteichef François Hollande, des "Ersten Sekretärs", streiten sich über ein Dutzend Bewerber. Dazu zählen - um nur die bekannteren zu nennen - der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë, die gescheiterte Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, Martine Aubry, die Bürgermeisterin von Lille, Ex-Premier Laurent Fabius, der ehemalige Kulturminister Jacques Lang und der Abgeordnete Jean-Christophe Cambadélis, der mit den "Wiederaufbauern" (Réconstructeurs) die jüngste Familie gegründet hat. Diese wie auch den "Ökologischen Pol" (pôle écologique) kann man als Hybrid-Familien bezeichnen, denn beide Strömungen bestehen aus lauter Leuten, die sich auch zu anderen Parteiflügeln zählen.
Die fast einstimmige Annahme der Grundsatzerklärung ist damit zu erklären, dass die Familienoberhäupter so etwas wie einen Waffenstillstand geschlossen haben. Alle sitzen wie Pokerspieler um einen Tisch und warten darauf, ob einer sich bewegt, etwas riskiert und damit aus dem Rennen um die Parteiführung im Spätherbst und um die Präsidentschaftskandidatur 2012 fallen könnte.
Einzig Bertrand Delanoë spielt dabei nicht mit. Er veröffentlichte kürzlich ein Buch mit dem Titel Mut! ("De l´audace!"). Er tritt darin ein für eine "Versöhnung von Sozialismus und Liberalismus", "eine Versöhnung zwischen gemeinsamen Fortschritten, Chancengleichheit, Solidarität und der legitimen Anerkennung des Individuums". Im "Namen der Wahrheit" lobt er den EU-Vertrag von Lissabon, "die neuen Räume der Freiheit", "den sozialen Fortschritt" und "die reale Umverteilung" in einem Atemzug. "Ich bin liberal. Die Linke muss sich das Wort und die Sache mit Stolz wieder aneignen." Am weitesten mit der sozial-liberalen Mauserung ging der sozialistische Abgeordnete Manuel Valls, der eine "neue Linke" verlangt, die "auch die Partei der Unternehmen" sein müsse.
Ségolène Royal dagegen hält Sozialismus und Liberalismus ebenso "für vollkommen unvereinbar" wie Martine Aubry, die den liberalen Sozialisten entgegenhält: "Wir sind ganz einfach Sozialisten, ohne das Verlangen, dem etwas hinzuzufügen." Das hinderte freilich Martine Aubry nicht daran, sich am Wochenende direkt neben Delanoë in die erste Reihe zu setzen und der wässerigen Grundsatzerklärung ebenso wie er zuzustimmen.
Der überzeugende Sieg der Sozialisten bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Mai - sie stellen die Präsidenten von 20 der 22 Regionen und die Bürgermeister in 24 von 36 Städten mit über 100.000 Einwohnern - kann die vielfache Spaltung der Partei wie auch die erheblichen Rivalitäten unter dem Führungspersonal nicht überdecken. Auf dem Kongress von La Villette hielten sich die "Elefanten" an den Appell von François Hollande, "keine Wort- und Ego-Schlachten" zu führen. Man war sich einig, "weil es nur um Gemeinplätze" geht, meinte Ex-Parteichef Henri Emmanuelli. Spätestens im Vorfeld des Parteitags vom November wird ein wüstes Hauen und Stechen beginnen.
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