Alexander Mitscherlichs Werk gehört zu den seltenen Büchern, deren Titel Die Unwirtlichkeit unserer Städte als Schlagwort in die Umgangssprache eingegangen ist. In welchem Kontext auch immer das Wort Unwirtlichkeit gebraucht wird, man denkt unweigerlich auch an Mitscherlich. Dem Autor wäre es vermutlich lieber gewesen, wenn der völlig in Vergessenheit geratene Untertitel es zu umgangssprachlichen Ehren gebracht hätte: Anstiftung zum Unfrieden. Dazu angeregt wurde er durch eine Streitschrift der zu Unrecht vergessenen Jane Jacobs (1916–2006), die das Greenwich Village in New York nicht vor der kapitalen „Sanierung“, aber totaler Vernichtung rettete.
Als Anstiftung zum Unfrieden wollte Mitscherlich das als „Pamphlet“ bezeichnete Taschenbuch aus dem Jahr 1965 verstehen: Er war sich im Klaren darüber, „dass ein Volksaufstand zu befürchten ist, wenn sich eine starke Gruppe seine Thesen von der Neuordnung der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in unseren Städten zu eigen machen würde.“ Ihm wäre das ein Trost, schrieb Mitscherlich, „dann käme die seit Jahrhunderten fällige deutsche Revolution; der Anlass wäre ihrer würdig“.
Der Psychoanalytiker stirbt 1982 – und keine „starke Gruppe“ hat sich seiner Thesen bemächtigt. Was nichts daran ändert, dass die so frisch und stark geblieben sind wie vor 45 Jahren. Die Grundthese Mitscherlichs ist einfach: Architektur und Städtebau sind „Prägestöcke“ für die Bewohner und Einwohner. „Wir müssen uns ihnen anpassen. Und das ändert zum Teil unser Verhalten, unser Wesen.“ Die Stadt bestimme den „sozialen Charakter der Bewohner mit“. Mitscherlich begreift diese Bestimmung als „Vorgang der Überwältigung“ in Städten, die ihren Charakter im 19. und 20. Jahrhundert stark verändert haben. Denn aus der „hochgradig integrierten alten Stadt“ ist in der Moderne eine „funktionell entmischte“ geworden. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, sich Vergnügen finden an getrennten Orten statt. Mitscherlich fragt: „Muss das so sein?“
Der Autor konstatiert zwei sich gegenseitig verstärkende Trends. In den Städten wird in die Breite statt in die Höhe gebaut. Und wenn die Städte dann unübersichtlich und unwirtlich geworden sind, ziehen die vermögenden Leute auf ihre „Ein-Familien-Weiden“ im Umland, wo sich Architekten- und Bauherrenwillkür gegenseitig überbieten bei der Errichtung von Pseudo-Privat-Bunkern, die alles ermöglichen, nur kein urbanes Leben. In den Städten entstehen gleichzeitig, „Slums, die man gemeinhin sozialen Wohnungsbau nennt“. Stadtzerstörung und Landschaftsverwüstung laufen parallel.
Natürlich räumt Mitscherlich ein, dass Entmischung ein Stück weit unumgänglich ist – es sollte keiner neben einer Ölraffinerie oder einem Chemiewerk wohnen müssen. Aber der Wahn der Entmischung bestimmt das Bauen nach 1945 in grotesker Weise. Die Ergebnisse sind zu besichtigen. Mitscherlich geht es nicht um Schuldzuweisungen an Personen oder Institutionen. Nach seiner Diagnose wirken alle zusammen – Bauherren, Architekten, Bauaufsicht, Planungsämter, Wähler und Stadtparlamente. Was sie gemeinsam schufen, wollte so niemand – „ein schroffes Nebeneinander von Rationalität und blinder Selbstsucht“ machte es möglich. Zuweilen verstärkt durch die nahtlose Einheit von Selbstsucht und Rationalität im Zeichen einer zu privaten Zwecken instrumentalisierten Vernunft.
Mitscherlich will kein Zurück hinter das Industriezeitalter, sondern zielt auf „neue Selbstdarstellung“ und „neue Verbindlichkeit.“ Wenn man freilich diese Perspektive wählt, betritt ein ebenso alter wie starker Feind alles wirklich Neuen die Bühne: „Das Tabu der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in den Städten, welches jede schöpferische, tiefgreifende Neugestaltung unmöglich macht.“ Mitscherlich zitiert einen prominenten Zeugen: „Ich betrachte diese falsche Bodenpolitik als Hauptquelle aller physischen und psychischen Entartungserscheinungen, unter den wir leiden. Die bodenreformerischen Fragen sind nach meiner Überzeugung Fragen der höchsten Sittlichkeit“ – so Konrad Adenauer als Kölner Oberbürgermeister 1920.
Obereigentum und Untereigentum
Wie auch andere Autoren vor ihm plädiert Mitscherlich für die Trennung von Boden und Bauwerk mit einem System der Erbpacht, in dem das Obereigentum bei der Stadt liegt und das Untereigentum bei den Bürgern. Als Arzt und Psychologe befürchtet er, dass „die kümmerlichen Gesellungsformen“ des städtischen Lebens nicht nur „eine freie Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten“ behindern, sondern zu „Verkümmerungen“ führen könne. Ihm geht es darum, vor jenen geheimen Beruhigern zu warnen, die unwirtliche Städte als „Unvermeidlichkeit des sozialen Daseins“ verniedlichen.
Mitscherlich verlangt, Psychoanalytiker in die Stadtplanung einzubeziehen – nicht als zusätzliche Spezialisten, sondern als Repräsentanten „des kritischen Bewusstseins“, mit „dessen Mitwirkung menschliche Umwelt gestaltet werden sollte“. Für schnelle Verkehrswege werde überall mit beträchtlichem Aufwand gesorgt, aber niemand denke – so Mitscherlich – an „ein System seelischer affektiver Kommunikation“. „Die Bedürfnisse des Gemüts“ blieben unberücksichtigt, und die Wohnungen gerieten „ungemütlich“. Gelegentlich rutscht Mitscherlich ins Spekulative und Kulturpessimistische ab, aber seine Hauptargumentationslinie ist politisch, kritisch und aufgeklärt: „Ohne die Einschränkung des privaten Eigentumsrechts an städtischem Grund und Boden ist freilich keine Freiheit für die Planung einer neuen Urbanität zu denken. (...) Wir haben noch nicht gelernt, dass Demokratie ein Prozess der Bewusstseinsentwicklung angesichts bisher unbekannter Probleme ist.“ Der Protest gegen „Stuttgart 21“ bestätigt seinen Befund.
Sozialpsychologische Folgen prognostiziert Mitscherlich vor allem deshalb, weil Grundbedürfnisse von Kindern beim Wiederaufbau nach 1945 völlig vergessen wurden „Die Defektformen der Raumplanung“ – so seine These – bewirke, dass Kinder, die keine sozialen Spielräume hatten, als „erwachsene Bewohner dann später nicht am politischen Leben der Gemeinde Anteil nehmen“. Wo die Minimalbedingungen für einen positiven Sozialisierungsprozess der Menschen nicht gegeben sind, müssen später Schule, Polizei, Jugendämter, Jugendrichter und Psychotherapeuten korrigierend eingreifen. Es ist Mitscherlichs Verdienst, die Gründe für solche Regressionen früh antizipiert zu haben, auch wenn er die kausalen Zusammenhänge empirisch nicht belegt hat.
Der Unfriede kam 1967/68
Mitscherlichs Buch erschien 1965 – zur Zeit der ersten großen Koalition unter Kanzler Kiesinger, die der 1959 mit dem Godesberger Programm rundgeschliffenen SPD den Eintritt in die Bundesregierung ermöglichte. Die Lage für radikale Intellektuelle wie Mitscherlich war trostlos. Keine formierte Opposition, geschweige denn eine Protestbewegung waren in Sicht. Es blieb nur das Vertrauen auf die Einsicht und Standfestigkeit der kritischen Intelligenz: „Was wir verlangen können – verlangen müssen –, ist die Anwendung unserer wissenschaftlichen Einsichten. (…) Wissenschaftliche Erkenntnisse sind Lernerfahrungen auf der jeweils erreichten vorgeschobensten Position unseres kritischen Bewusstseins. Eine Gesellschaft, die sich nur noch durch diese kritische Intelligenz in Ordnung halten kann, muss ihren wissenschaftlichen Einsichten Respekt verschaffen. Das ist ihre Form der Autorität, auf die Gefahr hin, dass damit Unfrieden gestiftet wird.“
Der Unfriede kam 1967/68 ins Land, die Zahl kritischer Intellektueller wuchs, aber Alexander Mitscherlichs Hoffnungen auf deren Einfluss gingen nicht in Erfüllung. Aber mit der Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit, unter der er seit 1945 litt, hatte es damals ein Ende – sein Taschenbuch von 1965 war ein Fanal genau dafür.
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