Ein Armutsgenerator

Frankreich Die Reform der Arbeitslosenversicherung macht die Not schlimmer und vergiftet das soziale Klima
Ausgabe 47/2019
Die französische Verteidigungsministerin Florence Parly (l.) und die französische Arbeitsministerin Muriel Penicaud
Die französische Verteidigungsministerin Florence Parly (l.) und die französische Arbeitsministerin Muriel Penicaud

Foto: Imago Images/PanoramiC

Laurent Berger, Generalsekretär der Gewerkschaft CFDT, spricht von „der sozial gesehen härtesten Reform seit 25 Jahren“. Gemeint ist der Umbau des Systems der Arbeitslosenversicherung, den Arbeitsministerin Muriel Pénicaud mit einem Kreis von Experten an den Gewerkschaften vorbei bewirkt hat. Die aus der Wirtschaft kommende Managerin arbeitet mit ihrem unbedingten Glauben an Effizienz ganz nach dem Geschmack von Präsident Macron. Ansonsten kommt sie weniger gut weg. Im Blatt Le Monde ist keineswegs übertrieben von einer „Strafreform“ die Rede. Auf jeden Fall mobilisiert Pénicauds Projekt zusätzlich für den am 5. Dezember geplanten Massenprotest gegen eine Rentenreform.

Derzeit gibt es landesweit gut sechs Millionen gemeldete Arbeitsuchende. Die Reform bietet nunmehr einer Minderheit unter ihnen in der Größenordnung von etwa 30.000 bislang abhängig Beschäftigten den Zugang zur Arbeitslosenversicherung, wenn sie sich als Existenzgründer selbstständig machen. Sie müssen fünf Jahre Unternehmer sein, um im Insolvenzfall einen Anspruch auf monatlich 800 Euro Arbeitslosengeld für ein halbes Jahr zu haben. Der Nebeneffekt: Diese Aussicht für einige wenige Anspruchsberechtigte vergiftet das soziale Klima, denn die vergeblich nach Arbeit suchenden Erwerbslosen werden dem Generalverdacht ausgesetzt, im Unterschied zu den agilen Existenzgründern auf dem Sofa zu sitzen und abzuwarten.

Nur noch 490 Euro

Insgesamt sind nach Schätzungen von Gewerkschaftern in nächster Zeit mindestens 850.000 Erwerbslose von den neuen Regelungen betroffen. Da die Reform erst am 1. November in Kraft getreten ist, kann man noch nicht auf Statistiken zurückgreifen, sondern ist auf Modellrechnungen angewiesen. Die beiden Grundprinzipien der Reform – rigidere Regeln für den Zugang zur Arbeitslosenversicherung und verringerte Leistungen – machen diese zum Armutsgenerator. Bisher musste man in 28 Monaten mindestens vier beschäftigt gewesen sein, um Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu bekommen. Mit der Reform wurde die Beschäftigungszeit auf sechs Monate erhöht und der Zeitraum auf 24 verkürzt. Das trifft eine noch nicht bekannte Zahl von Erwerbslosen hart, denn in vielen Bereichen der Wirtschaft, etwa in der Dienstleistungsbranche, sind befristete Arbeitsverträge die Regel und die Folgen erheblich. Eine Angestellte, die bisher mit einem Zeitvertrag über fünf Monate (ca. 800 Stunden) einen Bruttolohn von 1.600 Euro verdiente, hatte Anspruch auf 1.000 Euro Arbeitslosengeld für fünf Monate – nach der Reform nicht mehr. Einen neuen Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung würde sie erst erwerben, könnte sie 910 Stunden bezahlte Arbeit nachweisen. Das heißt, gegenüber der alten Regelung muss die erforderliche Arbeitszeit deutlich erhöht werden.

Das trifft jedoch nicht nur Geringverdiener. Einem festangestellten Techniker, der 5.500 Euro brutto verdient hat, standen bisher bei Arbeitslosigkeit Leistungen von 2.890 Euro für zwei Jahre zu. Nach der Reform erhält er für sechs Monate weiterhin 2.890 Euro, für die weiteren 18 Monate nur noch 2.360. Doch sind Geringverdiener weitaus härter betroffen, was mit der neuen Berechnungsart des „Tagesreferenzlohns“ (salaire journalier de référence) zu tun hat. Das heißt, die Leistungen hängen vom Durchschnitt des Bruttolohns in den vergangenen zwölf Monaten ab und sind mit einem Höchstbetrag gedeckelt. Für prekär Beschäftigte kann das zu einer Leistungsverringerung um 20 bis 50 Prozent führen, wie folgendes Beispiel zeigt: Wer mit zwei Zeitverträgen von drei bzw. sechs Monaten Dauer und einer zwischenzeitlich dreimonatigen Arbeitslosigkeit im Schnitt monatlich 1.700 Euro verdiente, hatte bisher für neun Monate einen Anspruch auf 1.040 Euro aus der Arbeitslosenversicherung. Nach der Reform sind es bei gleichen Arbeitsverhältnissen nur noch 490 Euro.

Für ältere Erwerbslose, deren Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung erschöpft sind, bleibt nur die „Solidaritätshilfe“, die momentan 500 Euro im Monat beträgt. Das heißt, von allen Reformen, die Emmanuel Macron in seiner Amtszeit angestoßen hat, ist die der Arbeitslosenversicherung zweifellos von ihrer Wirkung her die einschneidendste und verbreitet die meiste Angst.

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