Der Schweizer Historiker und rechtskonservative Publizist Herbert Lüthy (1918 – 2002) veröffentlichte 1954 ein Buch mit dem Titel Frankreichs Uhren gehen anders. Was auch heute noch zutrifft, nicht zuletzt nach der Einigung zwischen Paris und Berlin über ein 500-Milliarden-Euro-Rettungsprogramm für die Ökonomien der EU-Länder. Dies hat Kanzlerin Merkel abverlangt, auf das Haushaltsdogma der „schwarzen Null“ zu verzichten und innerhalb der EU solidarischen Krisenlösungen näherzutreten. Der französische Präsident musste im Gegenzug hinnehmen, nicht wie gewohnt nationale Souveränität beschwören zu können.
Während in Berlin die Bundesregierung die Krise nicht nur bewältigen, sondern daraus womöglich gestärkt hervorgehen will, steht Emmanuel Macron buchstäblich mit dem Rücken zur Wand: Die Arbeitslosigkeit steigt stark an (derzeit 8,7 Prozent), in der Nationalversammlung hat seine Partei La République en Marche (LREM) nach dem Übertritt von 17 Abgeordneten zur Gruppe Écolgie, Démocratie, Solidarité (EDS) die eigene Mehrheit verloren und verfügt nur noch über 288 von 577 Stimmen. Bei neun Fraktionen hängt die Mehrheitsbildung von Zufällen oder fragwürdigen Deals ab.
Frankreichs Uhren gehen anders – immer noch. Was derzeit die politischen Gemüter bewegt, sind neben den sozialen Konsequenzen der Pandemie nicht zuletzt die Zauber- und Aufputschmittel der eigenen Geschichte seit 1789: die Bewahrung der nationalen Souveränität oder eben der „souverainisme“, der momentan Linke, Rechte und die politische Mitte gleichermaßen beschäftigt.
Ende Mai verkündete Michel Onfray – Volkshochschullehrer, Philosoph und Autor populärer Bücher – die Gründung einer neuen Zeitschrift unter dem programmatischen Titel Front Populaire (Volksfront). Der Begriff steht in Frankreich für eine kurze, positiv besetzte Phase des gemeinsamen Regierens von Sozialisten und Kommunisten in den 1930er Jahren, als es soziale Reformen gab, verkürzte Arbeitszeiten und bezahlten Urlaub für alle. Auf diese Tradition jedoch will sich Onfray mit seinem Periodikum nicht explizit beziehen. Vielmehr will er „die Souveränisten von links und rechts verbünden und sammeln“, er hält – wie Macron – das „bipolare politische Spiel“ für beendet. Begriffe wie Volk, Nation, Souveränität und Protektionismus sind für ihn nicht länger „Schimpfwörter“ von Linken gegen Rechte und von Rechten gegen Linke, sondern „Anlass und Ausgangspunkt, um zu diskutieren“.
Nützlicher Idiot
Berührungsängste gegenüber Rechtsradikalen hat Onfray erklärtermaßen nicht, sofern derartige Partner nicht parteipolitisch engagiert sind. Angeblich hat das neue Blatt bereits 16.000 Abonnenten und prominente rechte wie rechtsradikale Autoren gewonnen, darunter Alain de Benoist, ein europaweit bekannter Vertreter des Ethnopluralismus und intellektueller Guru der Neuen Rechten. Auch Medienintellektuelle mit rechtem Profil wie Eric Zemmour vom Figaro, Elisabeth Lévy von der Zeitschrift Causeur, Patrick Lusinchi von Éléments, dem Magazin der „Identitären“ in Frankreich. Mehrere Abgeordnete des Rassemblement National von Marine Le Pen haben sich zum Vorhaben Onfrays positiv geäußert. Auch Angehörige des souveränistisch-nationalen Flügels der Linkspartei La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon begrüßten Onfrays Plan, „Souveränisten“ aller Lager zu sammeln. Mélenchon selbst indes bezeichnete Onfray als „nützlichen Idioten der Reaktion“.
Wenige Tage nachdem Onfrays Projekt bekannt geworden war, starteten die linke Gewerkschaft CGT, Attac und Greenpeace eine gemeinsame Initiative, um das „neoliberale und wachstumsfixierte Wirtschaftssystem“ zu überwinden, und zwar im Namen eines Rückgewinns von „nationaler Souveränität“. CGT-Generalsekretär Philippe Martinez, Aurélie Trouvé von Attac und Jean-François Julliard von Greenpeace sehen in ihrem Bündnis einen „Ausweg aus der Krise“. Martinez bringt das Programm auf die durchaus vernünftige Formel: „Anders produzieren und anders konsumieren“. Statt von Staatshilfen für Unternehmen ist von „planification“ und einem sozialökologischen Umbau der Wirtschaft die Rede, aber wie das unter der Parole „Souveränität“ gelingen soll, bleibt im Dunkeln.
Unter dem Druck der sich rechts und links sammelnden Souveränisten entschloss sich auch Präsident Macron – zwei Wochen nach der Einigung mit Angela Merkel über das bewusste Rettungsprogramm – zu einer souveränistischen Volte. In einem sehr ungewöhnlichen Schritt wandte er sich mit einem Brief an die Präsidenten von Senat und Nationalversammlung, um sie aufzufordern, innerhalb eines Monats Vorschläge „zur unverzichtbaren Erarbeitung eines neuen Frankreichbildes“ zu formulieren. Es gäbe die „Notwendigkeit, neue Perspektiven aufzuzeigen und Solidarität neu zu definieren“.
Macron beschwor einen „Vorstoß zur nationalen Einheit, zur Überwindung herkömmlicher Ordnungen und zur Mobilisierung aller, die guten Willens sind“. Sein Vorhaben beruhe auf zwei Säulen: „einem neu erfundenen Souveränismus, der die Wirtschaft, die Arbeitsplätze und die Umwelt schützt“, und einem „erneuerten Girondismus“, basierend auf einem dezentralisierten Staat im Interesse von Effizienz und Bürgernähe.
Das Gemeinsame aller drei Vorstöße – von rechts, von links und aus dem Élysée – besteht darin, dass ein ausgelaugter Souveränitätsbegriff, um den sich alles dreht und alle drehen, im Vagen glitzert. Darf man bei den Projekten des Präsidenten und des Verbundes aus CGT, Attac und Greenpeace noch voraussetzen, dass sie nicht nationalistisch und antieuropäisch grundiert sind wie vergleichbare Vorhaben der Rechten? Wird da ein Sprengsatz in die EU geworfen? Ebenso unklar wie die Absichten der Souveränisten aller Lager sind ihre politischen Aussichten. Vieles spricht dafür, dass sich alle Akteure des makabren Spiels bald in den Kulissen und Kostümen des erbaulichen Nationaltheaters aus dem 19. Jahrhundert als Zauberlehrlinge wiederfinden, die nur das Geschäft eines anderen beleben – des nationalistischen, antieuropäischen Frankreichs von Marine Le Pen.
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