Falsch lag bei der Europawahl Ende Mai, wer zuvor das Gespenst eines Durchmarschs des Rassemblement National (RN/früher Front National) nicht schwarz genug an die Wand malen konnte. Wie schon beim Präsidentenvotum 2017 wurde stattdessen deutlich, dass Marine Le Pen ihr Wählerreservoir auf absehbare Zeit wohl nicht erheblich vergrößern kann. Das oft beschworene Duell mit Emmanuel Macron ist insofern ein Scheingefecht, auch wenn die Rechtsnationalen mit 23,3 Prozent vor Macrons La République en Marche (LRM) lagen, jedoch gegenüber der EU-Wahl 2014 1,5 Prozent verloren! Sehen so Sieger aus? Der absolute Zugewinn von 500.000 Stimmen für Le Pen ist allein dem Umstand zuzuschreiben, dass die notorisch schlechte Wahlbeteiligung bei EU-Voten in Frankreich diesmal von 42,4 auf 52,4 Prozent gestiegen ist. An der Tatsache, dass der RN vorerst keine Chance hat, über die 30-Prozent-Marke zu kommen, ändert das nichts.
Macrons zweifelhaftes Verdienst bleibt es, die traditionellen Regierungs- und Volksparteien der V. Republik – Sozialisten und Konservative – mit seinem Weder-links-noch-rechts-Kurs in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt zu haben. Der Parti Socialiste (PS) kam bei der EU-Wahl im Bündnis mit Place Publique auf 6,2 Prozent, während die konservativen Les Républicains (LR) beim Wert 8,5 landeten. So sehen sich diese Parteien um Stammwähler und Einfluss gebracht, aber deshalb von einem anhaltenden Höhenflug Macrons und La République en Marche zu sprechen, erscheint deplatziert, zumal sich die Umfragewerte des Staatschefs seit den Gelbwesten-Protesten nicht merklich erholt haben. Macrons Wählerpotenzial dürfte vorerst ebenso ausgereizt sein wie das von Le Pen. Beide zehren von erodierenden Konservativen und Sozialisten. Dabei sind laut Umfragen 18 Prozent der Le-Pen- und über 20 Prozent der Macron-Wähler Abtrünnige der konservativen Republikaner. Was freilich die Präsidentenpartei rechts abschöpft, verliert sie links wieder an die Grünen, ein Nullsummenspiel ohne Perspektive.
Unter diesen Umständen mutiert La République en Marche zu einer liberal-konservativen, tendenziell rechten Partei. Womit Macron jene verärgert, die von den Sozialisten zu ihm wechselten. Nur hat er nun einmal die alten, gut situierten Wähler von Les Républicains abgesaugt und muss dem dadurch ausgelösten Rechtstrend folgen. In der Alterskohorte der 60 bis 70-jährigen Franzosen steht derzeit ein Drittel zu La République en Marche, nur noch 15 Prozent entscheiden sich für die rechtsbürgerlichen Republikaner.
Strohfeuer in Sackgassen
Wie die letzten Wochen zeigen, droht denen der freie Fall. Anfang Juni trat Parteichef Laurent Wauquiez zurück, weil ihm nach der verlorenen EU-Wahl der Wind ins Gesicht blies. Unmittelbar danach erklärte Gérard Larcher, der 70-jährige Senatspräsident, das konservative Lager neu ordnen zu wollen. Schließlich verließ Valérie Pécresse, einflussreiche Ex-Ministerin und Präsidentin der Region Ile-de-France, die Partei, weil diese „ihre Orientierung verloren“ habe und nun sogar über eine mögliche Fusion mit dem Rassemblement National nachdenke. Ein Sakrileg für die selbst erklärte „Erbin von Sarkozy“ – daher sei eine „Neugründung der Rechten“ als „Alternative zu Macron und Marine Le Pen“ unumgänglich. Henri Guaino, Sarkozys ehemaliger Redenschreiber, hingegen hat sich damit abgefunden, dass die Partei, „die wir UMP, Union pour un Mouvement Populaire, nannten“, jetzt La République en Marche heiße.
Die Chancen für einen dritten Weg sehen nicht eben rosig aus, denn die bereits zu Macron konvertierten Konservativen, darunter drei Minister, fordern ihre einstigen Parteifreunde auf: „Nützen Sie Ihre Kraft dafür, uns zu helfen, das Land wieder aufzubauen statt Ihre Partei.“ Ziel dieser Kampagne zur Ausbootung der Konservativen sind außer Abgeordneten vorrangig Bürgermeister, die landesweit nicht selten dank ihrer herausgehobenen Position die Parteiarbeit koordinieren.
Allerdings befinden sich die linken Parteien – außer dem Parti Socialiste sind das Jean-Luc Mélenchons La France insoumise und der Parti Communiste (PCF) – keineswegs in einer komfortableren Lage. Solange sich keine Annäherung an die Grünen abzeichnet, stehen sie eher noch schlechter da als die Konservativen. Der Aufschwung für Europe Ècologie Les Verts (EELV) auf 13,5 Prozent bei der Europawahl verdankte sich dem Linksruck der Partei, aber nicht minder ihrem klaren ökologischen Profil (Klima, Biodiversität), womit sie für viele Sympathisanten des PS in einem bis dato unbekannten Ausmaß wählbar wurde.
Ex-Sozialist Benoît Hamon von „Génération. s“ will nun nach einer Serie von Niederlagen als Präsidentschafts-, Parlaments- und EU-Parlamentskandidat „Abstand gewinnen von der Politik“. Mélenchon hat zwar die neoliberale Wende der Sozialisten nicht mitgemacht, entbehrt jedoch eines Konzepts, das anzeigt, wie durch zeitgemäße linke Politik Gerechtigkeit, Sozialstaat und Ökologie verbunden werden. Während sich die konservativen Parteibarone in die Rettungsboote ihrer lokalen und regionalen Hausmacht flüchten, verbunkern sich die linken Führer in den Parteizentralen, statt in offenen Debatten miteinander nach Alternativen zur Politik Macrons und zum absehbaren gemeinsamen Untergang zu suchen.
Bei den EU-Wahlen schnitten in Westeuropa jene sozialdemokratischen Parteien noch am besten ab, die sich nach links bewegt haben wie die spanischen und portugiesischen Sozialisten. Die in Frankreich übliche Strategie, mit Wahlkampf-Blitzkriegen die Oberhand über linke Konkurrenten zu gewinnen, hat sich dagegen als mediales Strohfeuer in politischen Sackgassen erwiesen.
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