Die Stimmung im Land ist gereizt, der Ton schrill. Wenn in der Bundesrepublik von der amtierenden Regierung die Rede ist, fallen seltsame Wörter. Zum Teil zielen sie auf Zustände, in denen es einen modernen Staat noch nicht gab, oder entstammen dem Vokabular des Strafrechts: "Wegelagerer", "Blutsauger", "Raubrittertum" gehören zur ersten; "Betrüger", "Wahlbetrüger", "Lügner" zur zweiten Kategorie.
Seit die rot-grüne Regierung nach ihrem Überraschungssieg vom 22. September den finanziellen Notstand ausrufen musste und sich im Chaos von regierungsamtlichen Ankündigungen und Dementis über neue Steuern und Leistungskürzungen verliert, hat sich ein Diskurs über Krise und Untergang hoch geschaukelt, der seinesgleichen sucht. Springers Groschenblatt und andere Boulevardblätter mischen ebenso mit wie seriöse Zeitungen.
Im Feuilleton der FAZ entschloss man sich am 19. November zu einem Knaller, der Ressortchef Schirrmacher noch Verdauungsprobleme bereiten könnte. Es kommt ja (noch) nicht jeden Tag vor, dass ein Artikel aus dem Blatt für "kluge Köpfe" tags darauf auszugsweise in Springers Vulgärpostille Bild nachgedruckt wird. Diese Ehre widerfuhr Arnulf Baring, emeritierter Historiker, den Bild als "Vordenker" für eine "grundlegende Erneuerung des politischen Systems" vorstellte.
Deren Beginn hat sich Baring so ausgedacht: "Die Situation ist reif für einen Aufstand gegen das erstarrte Parteiensystem. Ein massenhafter Steuerboykott, passiver und aktiver Widerstand, empörte Revolte liegen in der Luft. Bürger, auf die Barrikaden!" - Man könnte das als Träumerei eines durchgeknallten Geschichtsprofessors abtun, denn Barings wirtschaftspolitische Hinweise für einen Ausweg sind von entlarvender Albernheit: Mehr als "mehr Wettbewerb überall" hat er nicht anzubieten. Was "die Wiederbelebung der Selbständigkeit und Eigenverantwortung" sowie die Verkrustungen des Sozialstaats angeht, ist Baring ein Experte mit unbestreitbarer Lebenserfahrung. Mit 37 wurde er rundum versorgter Professor auf Lebenszeit an einer der verrottetsten Universitäten der Republik. Seit 1969 ist er jeder Bemühung um Selbstständigkeit, Wettbewerb und Altersvorsorge ledig. Seine sozialpolitische Kompetenz reicht also bestenfalls für den Stammtisch - gefährlich erscheint dagegen, was er politisch vorschlägt. Er beklagt, die deutsche Verfassung erschwere "durchgreifende Lösungen" und preist das Regieren mit Notverordnungen nach Art. 48 der Weimarer Verfassung. Die seriöse Forschung hält diesen Verfassungsartikel für einen Nagel zum Sarg der Weimarer Demokratie. Baring meint dagegen, die halbdiktatorischen Maßnahmen der Notverordnungen hätten "die krisengeschüttelte Republik jahrelang am Leben" gehalten. Er bedauert heute, das deutsche Grundgesetz enthalte "keine praktikablen Regelungen für den innenpolitischen Ernstfall", womit es "jede energische Konsolidierung Deutschlands" verhindere.
Historische Analogien sind immer heikel, weil sie die Unterschiede von historischen Konstellationen vernachlässigen. Aber das Mindeste, was sich zu Barings abenteuerlichen Vorschlägen sagen lässt, ist, dass man derlei seit Beginn der dreißiger Jahre nicht mehr gehört hat. Damals agitierten die Deutschnationalen und Rechtsradikalen sowie ihre professoralen Stichwortlieferanten von Carl Schmitt bis Ernst Rudolf Huber mit den gleichen Parolen gegen das "Parteiensystem", die Demokratie und die Weimarer Verfassung. Aber - hinter dem Rentner Baring, hinter Springers Artilleristen und den FAZ-Jungschützen stehen (noch) kein Hugenberg und (noch) keine rechtsradikale Partei. Im luftleeren Raum agieren sie allerdings nicht.
Was lässt diese Intellektuellen derart die Contenance und demokratische Minima wegwerfen? Warum provoziert eine eher schwache, zwischen Hektik und Fatalismus taumelnde Regierung solche maßlosen Ausfälle? Zunächst ist die Maßlosigkeit wohl als Ausdruck tiefer Verunsicherung des besserverdienenden juste milieu zu verstehen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik bedroht eine Wirtschaftskrise nicht nur Arbeiter und kleine Angestellte, die als "Überflüssige" weg-rationalisiert, weg-flexibilisiert und weg-modernisiert werden, sondern auch das akademisch gebildete Personal. Besonders betroffen ist die Zeitungsbranche, wo nach dem Einbruch des Anzeigengeschäfts (minus 30 Prozent) auch Hunderte von Redakteuren und Pauschalisten mit Arbeits- und Aussichtslosigkeit konfrontiert werden.
Wie anders soll man die ironiefreie Polemik Christian Geyers gegen Harald Schmidt in der FAZ verstehen? Geyer kanzelt den fidelen Entertainer unter feierlichster Beschwörung von "Kritik" und "Aufklärung" - für die er noch vorgestern nur Hohn übrig hatte - wegen mangelnden Respekts vor "Armut und Arbeitslosigkeit" ab. Offenbar sind den very cool guys in Frankfurt Kälte und Lässigkeit angesichts des drohenden Verlusts von Status und Arbeitsplatz über Nacht abhanden gekommen. Allerdings erklärt das noch nicht den Verbalradikalismus und die Gereiztheit fast der ganzen Branche.
Was Walter Benjamin 1930, nachdem die kapitalistische Weltwirtschaft in eine tiefgreifende Krise geraten war, den "Neuberliner Radikalismus" nannte, präsentiert sich heute als eine geballte Ladung älterer und neuerer Ressentiments. Kein einziges der Probleme, mit denen sich Rot-Grün herumschlägt - Fehlkonstruktionen in der Sozialversicherung, Schulden, "Wiedervereinigungs"lasten, Arbeitslosigkeit - ist neu. Dass das Rentensystem bei sinkenden Geburtenraten in eine demographische Krise gerät, ist ebenso lange bekannt, wie es andere Geburtsfehler der Rentenformel sind. Beamte und Besserverdienende zahlen gar nichts in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Gleiches gilt für die Krankenversicherung. Dieser verbleiben die "schlechten", sprich: teuren Risiken - die Armen, die Durchschnittsverdiener, die Alten. Bis vor einigen Jahren war es für sehr gut verdienende Manager möglich, sich jahrzehntelang billig privat zu versichern und nach der Pensionierung und bei steigender Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, in die gesetzliche Krankenkasse abzuwandern.
Das ist alles bekannt, aber statt der Debatte darüber, wie sozial ausgewogene Lösungen aussehen könnten, werden Sündenböcke ausgedeutet. Wenn Gewinne aus Aktien- und Immobilienverkäufen oder das haarsträubende deutsche Dienstwagenwesen ordentlich besteuert werden sollen wie überall auf der Welt, bemühen die Untergangspropheten allerorten reflexartig den "Leistungsträger" und "produktiven Steuerzahler" als Leitfigur gegenüber dem "Transferempfänger" ("Arbeitslose, Rentner und Beamte").
Ob der Radikalismus aus der Mitte nun militant leistungsorientiert oder militant gewerkschaftsfeindlich auftritt, ressentimentgeleiteter Fanatismus bleibt sein Markenzeichen. Politisch artikulieren sich darin zwei Tendenzen: das Interesse an grobianischer Vereinfachung bei der Deutung sozialer Zustände. Weil keiner mehr den Durchblick hat und die komplexen Konfliktlagen drückender werden, schlägt man sich mit dem Zweihänder durchs verbale Handgemenge. Die zweite Tendenz verweist auf ein grundsätzliches Defizit. Die Krise hat mit der gemütlichen Vorstellung aufgeräumt, unter den Bedingungen der "Postmoderne" - der Erschütterung aller großen Theorien - sei alles etwa gleich falsch und gleich unwichtig, theoretische Anstrengung also völlig unzeitgemäß. Die Krise hämmert nun auch den unentwegten Mitschwimmern die brutale Einsicht ein, dass mit dem Restbestand an Theorie - die Welt ist, wie sie ist, und das System tut, was es tut - auf Dauer nicht auszukommen ist. Skepsis gegenüber der Gegenwart und Erwartungen an die Zukunft sind damit nicht tot zu kriegen.
Spätestens als die forschen Meisterdeuter die Krise am eigenen Hals spürten, merkten sie, dass sie an theoriegeleiteten Erklärungen nichts mehr in der Hand hatten und buchstäblich ins Schwimmen kamen. Und als sie danach ans Ufer torkelten, begannen sie unartikuliert loszuschrei(b)en gegen die vermeintlichen Verursacher der Misere. Die Regierung wurde ihnen zum eingebildeten Hypersubjekt der elenden Zustände - ein exemplarischer Fall von Gedächtnisverlust.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.