Im Chaos der Straßen

Fotografie Scharfe Kontraste und ein unpathetischer Blick kennzeichnen die Bilder der Fotografin Barbara Klemm. Eine Ausstellung in Frankfurt

Die Straße ist nicht das ganze Leben, wahrscheinlich nicht einmal das halbe. Aber es gibt keinen anderen Ort, an dem man das Leben so gut in seiner unendlichen Buntheit und Vielfalt betrachten kann. Und Straßen führen mittlerweile an praktisch jeden Ort in der Welt oder zumindest in seine Nähe. Eine Ausstellung im Alten Zollamt, der Dependance des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, zeigt rund 60 Fotos von Barbara Klemm unter dem Titel Straßen Bilder – also weder „Straßenbilder“ noch „Straßen und Bilder“.

„Straßenbilder“ verdanken sich dem medial zugerüsteten Allerweltsblick, während Barbara Klemms gleichsam „absoluter“ Blick Straßen als Bilder erfasst. Und es ist dieser Blick der Fotokünstlerin, dem es gelingt, die grelle Buntheit und Vielfalt von beliebigen Straßenbildern zu schwarz-weißen Straßen Bildern zu verdichten. Die Titel der Ausstellung zielt auch auf den Bildcharakter ihrer Momentaufnahmen von Details aus einem Ensemble.

Licht und Schatten

Die aus dem Ensemble Straße gleichsam heraus gelösten Szenen zeigen Menschen und Menschengruppen wie auf eine eigens für sie errichteten Bühne. Die raffinierte Komposition erschließt sich dem Betrachter oft aus scharfen Kontrasten von Ordnung/Unordnung, Öde/Fülle, Licht /Schatten, Tristesse/Lebensfreude, Mühsal/Ruhe, Dumpfheit/Neugier, unten/oben.

Zu Straßen gehören zwar auch Straßenbahnen, Busse, Fahrräder, Motorräder und Autos, aber ihr Kern sind, wenn man von Autobahnen und anderen Schnellstraßen absieht, Menschen und Menschengruppen. Und Straßen werden gesäumt von Hütten und Palästen, Hochhäusern und Reihenhaussiedlungen, Mietskasernen und Villen, Luxusläden und Bordellen, Einkaufstempeln und Kirchen.

Das Interesse und der Blick der Fotografin gehören den Menschen und Menschengruppen im Chaos der Straßen, das die Künstlerin flanierend und sehend durchquert – buchstäblich auf allen Kontinenten der Welt von Australien abgesehen. Barbara Klemm hat einen Blick für „das Elend der Welt“ (Pierre Bourdieu), ohne in Sentimentalität oder Voyeurismus zu verfallen wie andere berühmte Reisefotografen. Flüchtlinge, Slumbewohner und Menschen in Armut und Elend in Südamerika, Afrika und Asien werden nicht ausgestellt, sondern behalten in den Fotografien ihre Würde und ihren Eigensinn. Straßen Bilder zeigen oft Menschen in Bewegung: hart arbeitende Menschen beim Ziehen oder Tragen von Lasten, pompös paradierende Militärs, musizierende Straßenkünstler, Verkäufer und Käufer von allerlei Waren, spazierende Huren. Im Kontrast dazu das Leben in Ruhe: Wartende an Bushaltestellen, Liebespaare, einsame Menschen. Barbara Klemm glättet die Wirklichkeit nicht, aber sie dramatisiert diese auch nicht. Ihre Aufnahmen weisen sie aus als analysierende Beobachterin, die das Elend ohne pathetische Gesten fixiert.

Ein Bild aus New York zeigt drei Mülltonnen aus Blech und unmittelbar daneben eine Personen, die sich – in einem Hauseingang kauernd - einen schwarzen Müllsack übergestülpt hat als Schutz gegen die Kälte und nun aussieht wie eine vierte Mülltonne.

Eine alte Mongolin hockt auf einer Straßeninsel, ein offener Sack neben ihr deutet an, dass sie mitten in dieser trostlosen Gegend etwas verkaufen möchte.

Fünf Generalsekretäre

Schwaches Licht oder gar nächtliches tauchen die aufgenommenen Szenen in eine Stimmung von fast magischer Ausstrahlung. Weder die Fotografin - und schon gar nicht der Betrachter - kann wissen, was genau die Kamera aufgenommen hat. Das vermeintlich Eindeutige - die Wirklichkeit - verschwindet hinter einem Lichtschleier und diffusen Schatten.

Barbara Klemm hat aber auch einen Blick für das Absurde und Groteske der Wirklichkeit. In Paris fotografierte sie eine Gruppe von vier plaudernden Damen in einem Park. Vor ihnen liegt, auf einer Bank ausgestreckt ein schlafender Clochard. In Teheran wurde sie Zeuge, wie zwei Männer ruhig und konzentriert ein geschlachtetes Schaf enthäuten, das an einem Verkehrspfahl hängt, an dessen Spitze ein Bild des Ajatollah Khomeini das Verkehrsschild halb verdeckt.

Die 1939 geborene Barbara Klemm war bis vor vier Jahren Redaktionsfotografin bei der FAZ. In deren vor längerer Zeit eingestellten Tiefdruckbeilage Bilder und Zeiten erschienen viele ihrer Arbeiten. Bekannt ist sie auch für ihre spontanen Politikerporträts, die das Niveau der üblichen Pressefotografien weit überragen. Berühmt wurde ihre Aufnahme von fünf Generalsekretären kommunistischer Parteien aus den Warschauer Pakt-Staaten, das sie an allen Sicherheitsorganen vorbei in Sekundenschnelle machte und damit die Abgründe hinter den stereotyp-harmlosen Fratzen der Funktionäre offen legte. In den letzten Jahre erhielt Barbara Klemm mehrere Preise und Auszeichnungen, die ihre breite Anerkennung dokumentieren.


Straßen Bilder. Museum für Moderne Kunst im Zollamt Frankfurt. Bis 22. November. Begleitender Bildband 54.-

Zur Frankfurter Ausstellung ist im Schweizer Nimbus-Verlag ein prächtiger Bildband erschienen, der rund 250 Fotografien hervorragend reproduziert, die zwischen 1969 und 2005 entstanden sind. Barbara Catoir und Hans Magnus Enzensberger haben kurze Essays beigesteuert 250 S., 180

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden