Immer nur hereinspaziert

Post-Privacy Eine Ausstellung in der Schirn will die Auflösung der Privatsphäre im Spiegel der Kunst zeigen. Die politische Dimension bleibt außen vor

Die Frankfurter Kunsthalle Schirn hat sich unter dem Titel Privat nicht weniger vorgenommen, als das Ende der Privatheit zu dokumentieren. Das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem wurde immer schon maßgeblich von technischen Medien bestimmt. Die Erfindung des Buchdrucks ermöglichte die Veröffentlichung von persönlichen Briefen und Tagebüchern, mit dem Aufkommen der Fotografie konnten auch Bilder aus der Privatsphäre öffentlich gemacht werden. Den entscheidenden Schub in Richtung „Auflösung der Privatheit“ sieht Kuratorin Martina Weinhart jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Fotoapparate und Filmkameras kleiner und für jeden erschwinglich wurden. So sind in der Frankfurter Ausstellung, die Arbeiten von 30 Künstlern zeigt, denn auch vor allem Fotografien und Videofilme zu sehen.

Am Anfang aber steht eine verschlossene Wohnungstür. Dahinter verbirgt sich, was für gewöhnlich privat und dem öffentlichen Blick nicht zugänglich ist. In gläsernen Vitrinen sind aufgeschlagene Fotoalben und anonymisierte Tagebücher aus dem Deutschen Tagebucharchiv zu sehen. Sie illustrieren die Anfänge der Lockerung der Privatsphäre. Den Gegenpol dazu bildet am Ende der Ausstellung eine 4-Kanal-Videoprojektion ohne Ton von Mike Bouchet, welche die Aufhebung der Privatheit im Internet optisch vorführt. Auf der riesigen Projektionswand kopulieren unzählige Paare. Die Filme stammen von pornografischen Webseiten im Internet. Je mehr sich der Betrachter der Leinwand nähert, desto mehr Schatten wirft er auf die Bilder. So verdeckt er die öffentlich gemachten Bilder privater Sexszenen und verschleiert – virtuell und vorübergehend – gelüftete Privatheit.

Fruchtwasser und Schmerz

Die Auflösung der Privatsphäre erfuhr in den vergangenen zehn Jahren durch die Verbreitung von Mobiltelefonen, mit denen man fotografieren und filmen kann, eine geradezu gespenstische Beschleunigung. Die Forderung nach schrankenloser Transparenz führt geradewegs in die Ära der Post-Privacy, wie auch die Konjunktur von Homestories, Talkshows und Reality-TV belegt – von sozialen Netzwerken wie Facebook ganz abgesehen.

Wie aber ist es dazu gekommen, dass das Internet wie eine Gegenwelt erscheint, die alles zeigt? Die Frankfurter Ausstellung geht zu den Anfängen dieser Entwicklung zurück. Ende der fünfziger Jahre drehte Stan Brakhage – der Pionier des Experimentalfilms – unter dem Titel Window, Water, Baby Moving die Geburt seines Kindes. Die drastischen Aufnahmen der sich öffnenden Vulva, des austretenden Fruchtwassers stehen in Kontrast zum Blick aus dem Fenster und auf das schmerzverzerrte Gesicht der gebärenden Frau. Der Film lässt niemanden kalt. Verglichen damit wirkt Andy Warhols Video Sleep (1963), das über fünf Stunden nichts anderes zeigt als Warhols schlafenden Freund John Giorno, bestürzend harmlos.

Ähnlich verhält es sich mit Tracey Emins Installation My Bed. 1998 sorgte das ungemachte Bett der Künstlerin, von gebrauchten Kondomen und allerlei anderem Unrat umgeben, in der Londoner Tate Gallery für Furore. Zwischenzeitlich hat der Sammler Charles Saatchi Emins Bett für 150.000 Pfund erworben, und es wurde in unzähligen Ausstellungen gezeigt. Die ursprüngliche Intimität des Werkes vermittelt sich längst nicht mehr. My Bed hat heute die Anmutung eines inszenierten Museums-Schlafzimmers.

Vorgetäuschtes Vergnügen

Der New Yorker Fotograf Ryan McGinley geht mit seinen farbig regelrecht auftrumpfenden Fotos aufs Ganze. Drei nackte junge Frauen und zwei nackte Männer verknoten sich in einer Badewanne zu einem Haufen aus Fleisch, Gliedern und Haaren. Die ausgelassene Stimmung der jungen Leute täuscht ein privates Vergnügen vor, wirkt aber inszeniert. Die Fotos des Becher-Schülers Jörg Sasse hingegen sehen auf den ersten Blick wie Urlaubsbilder eines naiven Hobby-Fotografen aus. Aber auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Bilder am Computer bearbeitet wurden und die vermeintlichen Alltagsmotive erst dadurch etwas geheimnisvoll-hintergründig Privates gewannen.

Verstörender sind da die Fotos von Richard Billingham und Marilyn Minter. Billingham porträtierte seine Eltern, die beide Alkoholiker waren, und Marilyn Minter ihre Mutter, die ihr Leben fast nur im Bett in einem schäbigen Zimmer verbrachte. Mit einem echten Tabubruch wartet Leigh Ledare auf, der das Sexualleben seiner in die Jahre gekommenen Mutter – die sehr junge Liebhaber bevorzugte – fotografieren musste: „Mit Hilfe unserer mit vielen Dingen befrachteten Mutter-Sohn-Beziehung benutzt sie mich als eine Art Instrument gegen ihren Vater – ganz zu schweigen davon, dass sie dadurch die allgemeinen kulturellen Tabus und Vorstellungen von Anständigkeit hinterfragte (…) Indem ich das Projekt realisierte und die Arbeit öffentlich machte, habe ich einen Rahmen über den Rahmen gelegt, den meine Mutter mir aufgezwungen hatte.“ Dieser Wandtext zu den konventionellen Aktaufnahmen macht den Betrachter sprachlos vor dem Abgrund, in den er blickt.

So zeigt die Frankfurter Ausstellung zwar einige überzeugende Arbeiten, greift aber zu kurz mit der Reduktion von Privatheit auf Sexualität. Wo vom Ende der Privatsphäre gesprochen wird, geht es fast ausschließlich um den Intimbereich. Die Beschwörung von „Post-Privacy“ folgt dem Geschäftsmodell des Facebook-Unternehmers Mark Zuckerberg („Privatheit ist eine überflüssige soziale Norm“) und der künstlerischen Kritik daran sowie kommerzieller Verwertung im Internet. Die Kuratorin kappt so historische, soziale, kulturelle und religiöse Dimensionen von Privatheit. Diese Verengung des Privaten wird dem anspruchsvollen Thema nicht gerecht.

Die anderen Dimensionen von Privatheit haben direkt mit der Bedeutung des lateinischen Worts „privare“ („berauben“, „entledigen“) zu tun und reichen vom Privateigentum über die Privatsammler und die Privatpatienten, die Privatbank und das Privatvergnügen bis zur Privatisierung öffentlicher Güter sowie der Privatisierung von Gewinnen und der Sozialisierung von Verlusten. Diese Facetten von Privatheit fanden und finden in der Geschichte der Kunst viele ästhetisch interessante Umsetzungen. Die Beispiele, angefangen bei Dürers und Rembrandts Kaufleute- und Kontorbildern über Picassos Fornarina-Zyklus hin zu den Kollagen von George Grosz und Klaus Staeck, sind Legion.

Privat Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main

Bis 3. Februar 2013

Der Katalog kostet 27,80 €

Rudolf Walther ist Publizist und Historiker

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