Die gescheiterten Referenden über den Verfassungsvertrag sind für die EU ein Debakel. Das Europa der 25 steckt in einer tiefen und hausgemachten Krise. Neu ist das nicht. Vor genau 40 Jahren - am 1. Juli 1965 - befahl Präsident De Gaulle seinen Ministern die "Politik des leeren Stuhls". Frankreich war danach für sieben Monate in den damaligen EWG-Institutionen in Brüssel nur noch mit Beamten, nicht mehr mit Ministern präsent.
Anlass und Verlauf der Krise damals glichen der heutigen. Vordergründig ging es um den Agrarhaushalt, im Kern jedoch um die politische Perspektive eines vereinigten Europas. Frankreich hatte in den sechziger Jahren die Bildung eines gemeinsamen Agrarmarktes aus robustem Eigeninteresse betrieben. Die Subventionierung der eigenen Bauern wurde immer teurer - rund sechs Milliarden Euro nach heutiger Kaufkraft. Nach den Vorstellungen Charles de Gaulles sollte ein gemeinsamer Agrarmarkt die nationalen Subventionskosten "europäisieren", das hieß, auf die fünf EWG-Partner abwälzen. Die Verhandlungen darüber schleppten sich hin, schließlich zogen die Franzosen ab.
De Gaulle hatte zu diesem Schlag nicht nur deshalb ausgeholt, weil die Gespräche über den gemeinsamen Agrarmarkt ins Stocken gerieten. Walter Hallstein, seinerzeit deutscher Kommissionspräsident, betrieb seit 1958 eine vorsichtige Politik der politischen Integration, die auf eine Entmachtung der Nationalstaaten hinauslief. De Gaulle wurde misstrauisch, als Hallstein in Washington plötzlich wie ein Staatschef empfangen wurde. Vollends suspekt war ihm Hallstein, als der versuchte, das Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat - sprich: das Vetorecht jedes Staates - aufzuweichen. Für Frankreichs Präsidenten waren die Blockade der Agrarverhandlungen und der Boykott des Ministerrates probate Mittel zum Zweck, um den von Hallstein offenkundig forcierten politischen Zusammenschluss zu torpedieren. Erst im Februar 1966 kehrten die Franzosen an den Verhandlungstisch zurück und ließen den Hallstein-Plan beerdigen, während der Agrarmarkt jene Konturen gewann, die er bis heute hat.
Die jetzige EU-Krise brach mit den ablehnenden Voten in Frankreich und in Niederlanden zum "Vertrag über eine Verfassung für Europa" aus. Schon der Titel war reiner Etikettenschwindel. Es handelte sich nicht um eine Verfassung, die sich Bürger und deren Repräsentanten geben wollten, sondern um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Regierungen, der von Regierungsdelegierten ("Konvent") ausgeklügelt wurde. So entstand eine Pseudoverfassung, die sich wie ein technokratisches Regelwerk las, mit 130 Seiten Text über "Politikbereiche und Arbeitsweise" der EU sowie 289 Seiten "Schlussbestimmungen, Protokollen, Erklärungen, Anhängen" und "Erklärungen zu den Protokollen". So erfährt der Bürger, dass "Kakaoschalen und Kakaoabfall" zu den agrarischen Erzeugnissen nach Artikel III-226 des Vertrags gehören.
Die Ablehnung des Ganzen durch eine Mehrheit in Frankreich und den Niederlanden hat zuvörderst innen- und sozialpolitische Gründe. Doch auch von einer überstürzten und überzogenen Osterweiterung fühlen sich viele überfahren. Dem Konventsmitglied Peter Glotz fiel zu den Gründen des Scheiterns nur der Satz ein, "die Völker sind die Völker". Ergänze: ohne die Völker wäre alles einfacher. Realistischer war sein polnischer Kollege Bronislaw Geremek: "Die Krise betrifft das Verhältnis zwischen politischer Elite und Bevölkerung." Doch auch er vermied es, die wahre Ursache der europäischen Heimsuchung zu benennen: die Arroganz der Macht. Quer durch Europa versuchte man die Bürger mit einem einzigen Argument zu überzeugen: "There is no alternative" (TINA). Der frühere französische Außenminister Hubert Védrine sprach mit Recht von der "Tölpelhaftigkeit und dem Dünkel", von der sich während der Referendumskampagne die Befürworter des Vertrags nicht zu lösen vermochten. Niederländer und Franzosen verweigerten sich der TINA-Parole und fragten unbeeindruckt: Warum überhaupt abstimmen, wenn eigentlich keine Wahl möglich sein soll?
Danach wurden in Brüssel wie in den EU-Hauptstädten drei "Lösungen" erwogen. Weiter so und abstimmen lassen, bis es klappt. Zweitens: Die ablehnenden Staaten enthalten sich ihrer Stimme im Europäischen Rat. Schließlich: Der Vertrag wird kosmetischen Korrekturen unterzogen. Alle drei Varianten zielten darauf, den Verfassungsvertrag nicht ad acta zu legen, sondern fortgesetzt ratifizieren zu lassen. Ein abenteuerliches Spiel und ein weiterer Beleg dafür, wie hoffärtig die Regierenden handeln und die Regierten missachten. Nachdem allerdings auch Dänemark, Portugal und Tschechien erklärten, ihre Referenden absagen zu wollen, spürten Kommission und Regierungen plötzlich den Wunsch nach einer "Atem- und Denkpause", um ihre Ratlosigkeit zu kaschieren und Zeit zu gewinnen. Die TINA-Propaganda wurde indes nicht als peinlich empfunden, sie grassiert weiter.
So war denn auch auf dem jüngsten EU-Gipfel die Debatte über das Verfassungsdesaster und den politischen Sinn der EU schnell vom Tisch. Im Kern ging es nur noch um den Finanzbedarf bis 2013, den Britenrabatt und den Agrarhaushalt - ein rüdes Feilschen ersetzte das Nachdenken über eine Europäische Union jenseits von Normen, Paragrafen und Subventionen. Die regierenden Buchhalter klammern sich lieber an Vertrags-Fiktionen. Es fehlt der Mut, mit den Bürgern eine breit angelegte Debatte über Ziele und Grenzen (!) der EU sowie weiterreichende politische Perspektiven zu führen: zum Beispiel die nach dem Vertrag von Nizza mögliche - und von vielen Bürgern gewollte - "verstärkte Zusammenarbeit" einzelner Staaten in der Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik.
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