Kein toter Hund

Ethikdefizit Oskar Negts "Epochengespräch" mit Marx und Kant

Der Hannoveraner Professor und linke Intellektuelle Oskar Negt fragt nach der aktuellen Bedeutung von Kant und Marx - richtig unzeitgemäß. Der äußere Anlass für die philosophische Bilanz war die Vorlesung, mit der sich der 1934 geborene Philosoph Oskar Negt im Sommer letzten Jahres vom Universitätsbetrieb verabschiedete. Die erweiterte Fassung dieser Vorlesung ist als Buch erschienen. Zu Negts akademischen Lehrern gehörten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Seine Assistentenzeit verbrachte er bei Jürgen Habermas, bevor er 1970 unter ziemlich abenteuerlichen Umständen in Hannover zum Professor berufen wurde. Im akademischen juste milieu galt der undogmatische Sozialist als Revolutionär und wurde geschnitten. Bei seinem Dienstantritt kündigten die Institutssekretärinnen demonstrativ, der Dekan verweigerte den Handschlag bei der Begrüßung.

Für Negt erschöpft sich "der Wahrheitsgehalt einer Theorie nicht in zeitbedingten Konstellationen und Herkunftsbeschreibungen". Denn jede Theorie, die diesen Namen verdient, enthält unabgegoltene Überschüsse: "Nichts von dem, was Marx und Kant im Gesamtzusammenhang ihres Denkens als menschliche Existenzweise problematisiert haben, ist ausgestanden, erledigt, durch Realisierung aufgehoben." Negt nennt seine Erinnerung an das Unerledigte in den Schriften von Kant und Marx ein Epochengespräch, weil das griechische Wort "epoche" das Anhalten, das Unterbrechen, den Haltepunkt bedeutet. Anders formuliert - es geht Negt um die Frage, was die philosophischen beziehungsweise gesellschaftskritischen Entwürfe von Kant und Marx für die Gegenwart bedeuten.

Insbesondere Marx gilt mittlerweile weit herum als sprichwörtlich "toter Hund" - wie im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts der 1830 verstorbene Hegel. Negt plädiert deshalb energisch für "ein Bürgerrecht von Marx im wissenschaftlichen Kontext", denn dessen Theorie sei von Leninismus, Stalinismus und Maoismus ebenso weit entfernt wie die Bergpredigt in der Bibel von den Praktiken der Inquisition und der Hexenverbrennung. Anhand von Zitaten belegt Negt die Aktualität von Teilen der Marxschen Theorie, so etwa dessen Hinweis, Menschen, Gesellschaften und Nationen seien "nicht die Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (gute Familienväter, RW) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen." Solchen Einsichten sind ohne weiteres anschlussfähig an die heutige Diskussion über ökologischen Umgang mit natürlichen Ressourcen und nachhaltige Entwicklung. Die Ironie der Geschichte will es, dass noch keine Wirtschaftsordnung den im Kapital von Marx beschriebenen Zuständen so nahe gekommen ist wie die globalisierte Weltwirtschaft und insbesondere die fast ungebremste Ausbreitung der Finanzmärkte und der New Economy heute.

In fast noch größerem Ausmaß als Marx ist Kant aktueller denn je. Es gibt keinen ernsthaften ethischen Diskurs in der Gegenwart, der sich nicht in der einen oder anderen Weise auf Kant bezieht und buchstäblich auf dessen Schultern steht. Mit der Kernspaltung zu friedlichen und zu militärischen Zwecken sowie mit den möglich gewordenen Eingriffen in die genetische Substanz von Pflanzen, Tieren und Menschen drohen Grenzüberschreitungen, die ethisch nicht verantwortbar sind. "Eine Selbstbegrenzung des Forschungsinteresses" ist unvermeidlich, wenn Katastrophen und Verbrechen vermieden werden sollen. Kants Philosophie der Freiheit, die jenseits des "Reiches der bloßen Mittel", wo Marktgesetze, die Naturgesetzen sehr ähnlich sind, herrschen, kennt das Menschen vorbehaltene "Reich der Zwecke". Hier regieren allerdings nicht Preise, sondern die Würde, Autonomie und Verantwortung von Subjekten.

Negt begreift es als ein Defizit vieler sozialistischer Theoretiker, dass sie sich - mit Ausnahme Hermann Cohens und einiger anderer - kaum mit ethischen Fragen beschäftigten. Sie verzichteten dadurch nicht nur auf Ethik und Moral als Mobilisierungselement im politischen Kampf um Anerkennung, sondern eliminierten obendrein die nicht hintergehbare individuelle Verantwortung für jedes Handeln und Nicht-Handeln. Mit dem Verschwinden von Gewissen und Verantwortung aus der Politik entstand ein "moralisches Vakuum", das durch autoritativ verordnete Parteidogmen und ein blindes Vertrauen auf vermeintlich historische Gesetze aufgefüllt wurde. "Diese Erosion der Sittenverfassung" im sogenannten real-existierenden Sozialismus hält Negt für mitverantwortlich für den Kollaps des Systems.

Oskar Negt: Kant und Marx. Ein Epochengespräch. Steidl, Göttingen 2003, 96 S.,
24,50 EUR

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