Bröckeln alte Ideale? Die Skulptur „Génie de la Liberté“ in Paris erinnert an die Revolution von 1830
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Sprichwörtlich heißt es: „Geschichte wiederholt sich nicht.“ Und wenn doch, so folge auf die Tragödie nur die Farce. Allerdings fällt es manchmal schwer zu erkennen, worin die Tragödie besteht und worin die Farce. Aber das gilt nicht immer. Nach der Niederlage des französischen Heers mit 700 Toten, über 2.000 Verwundeten und 5.000 Gefangenen gegen das halb so große preußische Heer in der Schlacht bei Roßbach am 5. November 1757 während des Siebenjährigen Kriegs (1756 bis 1763) soll die Marquise de Pompadour, eine Mätresse König Ludwigs XV., gesagt haben: „Après nous le déluge!“ (Nach uns die Sintflut.) Viele Historiker sehen darin bis heute ein Zeichen für den nihilistischen Zynismu
smus des Adels im dahinsiechenden Ancien Régime.Wie einst diese Feudalordnung erscheint auch das gegenwärtige Frankreich als kranker Mann Europas. Einer, der das am heftigsten bestritten hat, war der linke Sozialist und Ex-Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg. Nach seiner öffentlichen Kritik an der Wirtschaftspolitik des Präsidenten François Hollande musste er freilich ebenso zurücktreten wie die Kulturministerin Aurélie Filippetti, die sich mit ihm solidarisiert hatte. Doch Montebourg ging nach der erzwungenen Demission nicht daran, die zersplitterte linke Opposition innerhalb des fast scheintoten Parti Socialiste (PS) zu sammeln, sondern auf Reisen – zusammen mit der Kollegin Filippetti. Davon wusste die Öffentlichkeit nichts, bis das Boulevardmagazin Paris Match Paparazzifotos des Liebespaars aus dem Urlaub publizierte.Worin liegt die Tragödie? Im Zustand des PS? Im Verhalten eines linken Politikers während der größten Krise des Landes in den Zeiten der V. Republik oder vielleicht auch in dem Umstand, dass die Privatsphäre von zwei Menschen verletzt wurde? Und zwar nicht nur von Boulevardmedien, von denen niemand etwas anderes erwartet, sondern ebenso von Zeitungen, die sich rühmen, Qualitätsjournalismus zu bieten: Die Liebesgeschichte Montebourg-Filippetti beschäftigt in großer Aufmachung ebenso Le monde wie die Frankfurter Allgemeine, El País und die Neue Zürcher Zeitung. Das ist nichts weiter als eine Tragödie für den Qualitätsjournalismus, der dem Boulevard in die Versumpfung hinterherkriecht.Gulliver in FesselnTrotz der Nobelpreise für zwei Franzosen, den Romancier Patrick Modiano und den Ökonomen Jean Tirole, herrschen beim kranken Mann Depression und blanke Verzweiflung. Der Staatschef gibt ein miserables Bild ab. Gerüchten zufolge kümmert sich Hollande in seinem feudalen Amtssitz gern um alltägliche Kleinigkeiten, gibt dann aber bei internationalen Krisengipfeln den interventionsfreudigen Ordnungspolitiker (Mali, Syrien, Irak) und regrediert in seiner Wirtschafts- wie Sozialpolitik immer mehr zum erbötigen Vasallen der Märkte. Der Politikberater Jacques Attali beschreibt den Staat des François Hollande als gefesselten Gulliver, der die Geschäfte enttäuschter Bittsteller bediene, statt den Bürgern zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen.Politik für die enttäuschten Bittsteller macht inzwischen der neue Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der aus dem Big Business kommt und weiß, was bei Investoren und Ratingagenturen als Reform durchgeht. Nämlich alles, was sich auf Liberalisierung und Flexibilisierung reimt: Bei Erleichterungen für den Fernbusverkehr im Wettbewerb mit der Staatsbahn gilt das ebenso wie für erweiterte Sonntagsarbeit und liberalisierte Ladenöffnungszeiten an Feiertagen – ein Affront gegenüber den Gewerkschaften. Man kann auch den Verkauf von Staatsbeteiligungen anführen, um Hedgefonds lukrative Ausschlachtungsgeschäfte zu ermöglichen, oder den Netzverkauf von Medikamenten, um ländlichen Apothekern mit ihren höheren Preisen den Garaus zu machen.In der deutschen Politik hat man sehr wohl bemerkt, dass es mit einem kranken Mann am Bein in der EU nicht leichter wird. Vor allem, wenn es sich dabei um Frankreich handelt. Umso vehementer hat Finanzminister Wolfgang Schäuble verkündet, man brauche einen starken Partner in Paris, das sei unverzichtbar. Also arrangierte man im Vorfeld des EU-Gipfels vom 25. und 26. Oktober bilaterale Treffen der Finanzminister (Schäuble und Michel Sapin) sowie der Wirtschaftsminister (Sigmar Gabriel und Macron) zu Wochenbeginn in Berlin. Da dem französischen Staatsbudget für 2015 ein blauer Brief und – wegen der erneuten Ignoranz der Dreiprozenthürde bei der Neuverschuldung – gar Sanktionen aus Brüssel drohen, findet sich die Regierung Merkel bereit, Investitions- und Wachstumsprogramme nicht mehr vollends auszuschließen. Was geboten erscheint: Frankreich leidet nicht nur an hoher Arbeitslosigkeit (fast elf Prozent) und einem Haushaltsdefizit (4,3 Prozent), an Nullwachstum und einer Bildungsmisere, sondern gleichfalls an mangelnder Wettbewerbsfähigkeit seiner Erzeugnisse, und das trotz der höchst großzügigen, 41 Milliarden Euro teuren Geschenke an die Unternehmen, mit denen Hollande sogar seinen spendierfreudigen Vorgänger Nicolas Sarkozy übertraf.Comeback mit HindernissenDamit kommt ein weiteres Symptom für die Leiden des kranken Manns ins Spiel: ein Ex-Präsident, der für die enorme Verschuldung des Staats maßgeblich verantwortlich ist . Sein Premier François Fillon, den Sarkozy herablassend „mein Mitarbeiter“ zu nennen pflegte, erklärte nur vier Monate nach dessen Wahlsieg im Mai 2007: „Wir haben einen Staat, der dem Konkurs entgegentaumelt.“ Während Sarkozys Amtszeit wurde deutlich, dieser Befund galt nicht nur wirtschaftlichen Defiziten, sondern auch der politischen Moral. Als Präsident war Sarkozy in gut ein Dutzend Skandale verwickelt, von denen zwei wegen illegaler Wahlkampffinanzen sowie Geldwäsche bei Rüstungsgeschäften just in dem Augenblick in eine juristisch entscheidende Phase traten, als Sarkozy jüngst seine Ambitionen auf die Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2017 ankündigte. Die depressive Stimmung nutzend, empfahl sich ein selbstherrlicher Konservativer und Totengräber der republikanischen Kultur als Retter der Nation, auch wenn das Präsidentenvotum noch in weiter Ferne liegt.Selbst in Sarkozys ehemaliger Regierungspartei Union pour un Mouvement Populaire (UMP) setzt man lieber auf Alain Juppé, den Bürgermeister aus Bordeaux. Der schielt nicht nach rechts auf die Wähler des Front National (FN), sondern grenzt sich von Marine Le Pen sehr viel entschiedener ab als Sarkozy. Ohnehin sehen zwei Drittel der Franzosen – nach Umfragen, die nicht über jeden Zweifel erhaben sind – in Nicolas Sarkozy keinen geeigneten Nachfolger für François Hollande.Placeholder infobox-1Da die Konkurrenz in der UMP um Parteivorsitz und Präsidentschaftskandidatur mit robuster Härte geführt wird, griff Juppé dieses Stimmungsbild umgehend auf und plädierte für einen Aspiranten auf das höchste Staatsamt, der „keine Justizprobleme hat“. Mit anderen Worten, Sarkozys Comeback-Coup wird kein glatter Durchmarsch an die UMP-Spitze und später zur Macht sein. Im Senat, wo die Konservativen mit 190 zu 156 Sitzen inzwischen über eine Mehrheit verfügen, wurde denn auch nicht Sarkozys Favorit, Ex-Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin, zum Präsidenten gewählt, sondern Gérard Larcher, ein treuer Anhänger von Ex-Premier François Fillon.Der Ökonom Daniel Cohen bringt den Zustand und die Therapiemöglichkeiten für den kranken Mann in einer Le-Monde-Kolumne vom 14. Oktober so auf den Punkt: „Einzig Mario Draghi und Jean-Claude Juncker können uns retten.“ Ob die das dürfen, wird wohl in Berlin entschieden.
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