Mit der Ernennung des 37-jährigen Gérald Darmanin zum Innenminister haben sich Präsident Emmanuel Macron und Premierminister Jean Castex offenbar eine so nicht erwartete Last aufgebürdet. Gegen Darmanin läuft bereits zum zweiten Mal ein Ermittlungsverfahren wegen sexueller Belästigung und Vergewaltigung. Das erste wurde 2009 eingestellt, 2018 jedoch ordnete das Appellationsgericht neue Ermittlungen an in einem ziemlich undurchsichtigen Fall. 2009 bat eine Frau den damaligen Kommunalpolitiker Darmanin um Rat in einem schwierigen Rechtsfall. Die „Beratung“ endete in einem Pariser Hotelzimmer, und die Beteiligten stritten nach der Klage der verheirateten Frau darüber, ob der sexuelle Kontakt in gegenseitigem Einverständnis stattgefunden habe oder nicht.
Die noch andauernde juristische Auseinandersetzung könnte für die Regierung zum Problem werden, denn feministische Verbände empfinden die Ernennung Darmanins zum Innenminister als Provokation und rufen landesweit zu Protesten auf. Als Innenminister ist Darmanin obendrein der Chef der Ermittler. Wo auch immer er momentan öffentlich auftritt, wenden sich Frauen lautstark gegen ihn.
Macron und Castex gossen noch Öl ins Feuer. Macron nannte Darmanin öffentlich einen „Freund“, mit dem er Probleme „von Mann zu Mann“ besprochen habe. Castex bekräftigte demonstrativ, die Unschuldsvermutung gelte natürlich auch für einen Minister. In der Öffentlichkeit kamen diese Solidaritätsbekundungen wie Versuche zur Bagatellisierung eines Vergehens und wie „Quasi-Freisprüche“ an. Feministische Organisationen sprachen von einer regelrechten Karikatur der „beispielhaften Republik“, die Macron versprochen hatte, und protestierten gegen die nun dargebotene Kultur der „Vergewaltigung en Marche“. Mitte Juli erschien in Le Monde ein offener Brief von 91 prominenten Frauen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft, die den Rücktritt des soeben erst ernannten Ministers verlangten. Caroline de Haas vom feministischen Netzwerk „Nous toutes“ (Wir alle) sprach von einer „Kriegserklärung gegen den Feminismus“. Selbst konservative Politikerinnen wie Rachida Dati, die bei den Kommunalwahlen unterlegene Kandidatin für das Pariser Bürgermeisteramt, distanzieren sich von Gérald Darmanin. Der schob bislang jede Kritik mit Hinweisen wie „falsche Anzeige“, „Menschenjagd“ oder „Verleumdung“ beiseite und beteuerte: „Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“
Der 1982 geborene Darmanin wuchs im nordfranzösischen Valenciennes auf und besuchte eine katholische Privatschule. Der Großvater väterlicherseits kam aus Malta, der Großvater mütterlicherseits stammte aus Algerien und kämpfte als „Harki“ mit der französischen Armee gegen die algerische Befreiungsbewegung FLN. Darmanins Vater betrieb in Valenciennes ein Bistro, die Mutter arbeitete als Reinigungskraft, sodass Darmanin später gern seine Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen betont und erklärt hat, ein „sozialer Gaullist“ zu sein. Er studiert in Lille Politikwissenschaft, engagiert sich in der gaullistischen Union pour un Mouvement Populaire (UMP), wo er als „katholischer Traditionalist“ gilt und in Christian Vanneste einen lokalpolitischen Mentor findet, der ihn zum Politique Magazine bringt, einer rechtsnationalen Monatszeitschrift in der Tradition der royalistischen und antisemitischen Action Française des rechtsnationalistischen Schriftstellers Charles Maurras (1868 – 1952).
Darmanin arbeitet in der UMP, in der er es für wenige Monate bis zum stellvertretenden Generalsekretär unter dem glücklosen François Fillon bringt. Er wird Büroleiter und Wahlkampfmanager von Lokal- und Regionalpolitikern, unter anderem von Nicolas Sarkozy. Ab 2008 bekleidet Darmanin verschiedene Wahlämter auf kommunaler und regionaler Ebene und wird schließlich 2014 zum Bürgermeister der vom sozialen Niedergang der Textilindustrie in Mitleidenschaft gezogenen nordfranzösischen Stadt Tourcoing gewählt. In der Schul- und Verkehrspolitik bringt er die Stadt schnell auf eine stramm rechte Linie und profiliert sich mit Sprüchen wie: „Das Auto an sich ist nicht umweltverschmutzend!“ 2017 wendet er sich von den konservativen Les Républicains (LR) ab und wechselt zu La République en Marche und Macron, den er noch kurz zuvor als „finales Gift für die V. Republik“ geschmäht hat. In der 2017 gebildeten Regierung von Édouard Philippe ist ihm das Ressort für staatliches Handeln und öffentliche Haushalte übertragen. Er verzichtet auf das Bürgermeisteramt, bleibt aber erster Stellvertreter, sichert sich also die für französische Berufspolitiker übliche Lebensversicherung.
Zeitweise hat Ex-Präsident Nicolas Sarkozy den Nachwuchspolitiker aus dem Norden gefördert. Darmanin scheint bei ihm gelernt zu haben, wie man mit Worten ein Feuer zum Lodern bringt. Sarkozy bedachte einst randalierende Jugendliche mit dem Wort „racaille“ (Gesindel), von dem die Vorstädte mit dem „Kärcher“ zu säubern seien. Darmanin sagte jüngst: „Wenn ich das Wort ‚Polizeigewalt‘ höre, ersticke ich.“ Das wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Nicht lange zuvor war nach einer Polizeikontrolle mitten in Paris eine Videoaufnahme aufgetaucht, in der ein auf den Boden gedrückter Cédric Chouviat stammelte: „Ich ersticke.“ Es waren die letzten Worte des Opfers polizeilicher Gewalt. Chouviat starb auf dem Transport ins Krankenhaus. Minister Darmanin bestritt Parallelen zu anderen Fällen, in denen Ermittlungsverfahren gegen Polizisten gefordert waren. Er habe nur ein übliches französisches Wort verwendet, das alle verstünden. Angehörige des Opfers sprachen von „Schande“ und verlangten eine Entschuldigung.
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