Frankreich Vor der Präsidentenwahl 2022 ist das politische Feld zersplittert wie selten. Wer hat die besten Chancen auf den Einzug in den Élysée-Palast?
Das Land beschäftigt derzeit besonders eine Frage: Wer wird für die Präsidentenwahl nominiert, deren erste Runde für den 10. April 2022 angesetzt wurde? Klar ist bislang, dass der amtierende Staatschef Emmanuel Macron für seine Bewegung La République en Marche (LREM) antreten wird, mit der er 2017 das Parteiensystem der V. Republik förmlich pulverisierte. Alles andere als eindeutig sind Macrons Aussichten, die Wahl zu gewinnen – ihm fehlt ein Mehrheitsbeschaffer. Diesen Part könnte die am Wochenende in Le Havre gegründete neue Partei von Ex-Premier Édouard Philippe übernehmen, der zwar Anfang Juli 2020 durch Jean Castex ersetzt wurde, aber seither stets seine Loyalität zum Élysée beteuert hat.
Pragmatiker Jadot
Macro
JadotMacrons Absicht, Konsenspolitik für alle zu machen, kam in den zurückliegenden Jahren einem Bruch mit der französischen Tradition einer Links-rechts-Polarität gleich. Dies bei der anstehenden Präsidentenwahl aufzufangen, scheint das Anliegen von Édouard Philippe zu sein, des Bürgermeisters von Le Havre. Er wollte seine Neugründung mit dem Namen „Horizons“ versehen. Dafür habe man sich entschieden, weil es gelte, „sehr weit nach vorn zu schauen“. Frankreich brauche den strategischen Blick bis ins Jahr 2050, so Philippe. Wenn er damit möglichst viele Stimmen aus dem Zentrum abfischen will, muss sich besonders einer fürchten, und das ist Ex-Justizminister François Bayrou mit seinem Mouvement démocrate (MoDem). Bisher kann die Partei ein Zehn-Prozent-Segment abdecken, das bei Macron und Philippe offenbar Begehrlichkeiten weckt.Einigermaßen übersichtlich ist die politische Lage bei den Grünen, der Partei Europe Écologie – Les Verts (EELV). Es gab zwei Wahlgänge für Mitglieder und Sympathisanten, wobei sich in der Stichwahl der Europa-Parlamentarier Yannick Jadot und die Ökonomin Sandrine Rousseau gegenüberstanden. Mit einem Vorsprung von über 2.700 Stimmen bei gut 120.000 an diesem Votum Beteiligten triumphierte Jadot. Entgegen vorherigen Befürchtungen trugen der Pragmatiker und die Ökofeministin den Wettbewerb ohne gegenseitige Verletzungen aus, sodass die Grünen alles in allem gestärkt aus dieser internen Entscheidung hervorgehen. Jadot, der in Deutschland unter die Kategorie „Realo“ fiele, empfahl sich als Kämpfer für unverzichtbare Klimaziele und Garant für die Einheit der Umweltpartei. Rousseaus plädierte bei Fernsehauftritten mit Jadot für „eine Revolution“ zugunsten der Umwelt und gegen das Patriarchat. „Wir pressen Frauenkörper aus, wir gebrauchen sie, wir werfen sie weg. Wir wollen das nicht mehr, das ist die Revolution, die ich vorschlage“, hörte man.Ehrlich erfreut von dieser unverhohlenen Radikalität zeigte sich nur Jean-Luc Mélenchon von der linkssozialistischen Partei La France insoumise (LFI). Mag sein, dass er auf Stimmen der gegen Jadot unterlegenen Wähler von Rousseau hofft. Seine Prophezeiung – „Alle, die eine Kandidatur von Sandrine Rousseau unterstützten, haben 2022 eine Wahl“ – deutet darauf hin, dass sich Mélenchon als Alternative anbietet. Jadot hingegen wirbt für „die große Sammlung“, mit der sich „ökologische und fortschrittliche Kräfte zusammenführen“ ließen. Diese Offerte hat freilich einen wunden Punkt. Auf genau dieselbe linksliberal-ökologisch orientierte Wählerschaft zielt auch Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris und mögliche Präsidentschaftskandidatin des Parti Socialiste (PS).Sandrine Rousseau hat für ihre couragierte Agenda viel Häme und Spott geerntet. Die rechte Zeitschrift Valeurs actuelles sieht das Land bereits auf „der Reise zu grüner Verrücktheit und neuen Ajatollahs“. Doch auch andere Kommentatoren bemerken, dass ökologischer Radikalismus den Grünen noch nie bekommen sei, und erinnern an 2012, als statt des populären Umweltschützers Nicolas Hulot die radikale Richterin Eva Joly als Präsidentenbewerberin antrat und nur 2,3 Prozent der Stimmen holte. Der Pragmatiker Jadot hat Programmatik und Image von EELV mit Sicherheit gedient. Die Partei gehört jetzt zum etablierten Pariser Politbetrieb, doch könnte der Preis für dieses Ranking 2022 die Rolle des Verlierers sein.Eher verwirrend wirkt das personelle Tableau bei den konservativen Les Républicains (LR), ziehen sie doch gerade in einen „Krieg um die richtige Methode“, sprich: den Modus für die Kandidatenwahl. Dahinter versteckt sich ein Richtungsstreit darum, wie mit der Parteirechten und den zum Rechtsextremismus, also Marine Le Pens Rassemblement National (RN), neigenden Mitgliedern und Sympathisanten umzugehen ist. Ansonsten herrscht an Bewerbern kein Mangel. Neben Xavier Bertrand, Präsident der Region Hauts-de-France, sind Valérie Pécresse, Präsidentin der Region Île-de-France, Éric Ciotti, Abgeordneter aus der Region Alpes-Maritimes, und Ex-EU-Kommissar Michel Barnier im Aufgebot. Alle außer Bertrand, der seit 2017 nicht mehr Parteimitglied ist, wollen sich dem Kongress am 4. Dezember stellen, bei dem der konservative Aspirant nominiert werden soll. Umstritten bleibt, wer an einem Vorentscheid teilnehmen darf – nur Mitglieder (das wären etwa 80.000) oder Mitglieder und Sympathisanten.Provokateur ZemmourBrisant ist diese Befragung vor allem deshalb, weil damit gerechnet wird, dass sich auch der rechtsradikale Journalist und Bestsellerautor Éric Zemmour, der angekündigt hat, 2022 zur Wahl antreten zu wollen, beim Kongress der Konservativen in Szene setzen könnte. Seine Vorliebe für die Provokation lässt ihn fordern, Vornamen wie Mohammed in Frankreich zu verbieten und den Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain zu rehabilitieren. Wollen sich die Konservativen darauf einlassen oder diese Botschaften ignorieren? Für Christian Jacob, Präsident von Les Républicains, ist Zemmour ein Rassist, während der sich als Präsidentschaftskandidat bewerbende Éric Ciotti ankündigte, bei einer möglichen Stichwahl zwischen Macron und Zemmour für Letzteren zu stimmen.Zemmour bringt auch Macron, der ihn bisher offiziell nicht zur Kenntnis nimmt, in Schwierigkeiten. Käme es tatsächlich zu einem Stechen zwischen den beiden, hinge eine Wiederwahl auch vom Votum der Wähler Marine Le Pens ab, für die Zemmour im rechtsradikalen Spektrum derzeit ein unerbittlicher Rivale ist.