Der Zustand der französischen Linken kurz vor den Wahlen zur Nationalversammlung am 10. und 17. Juni ist erbärmlich. François Hollande, Erster Sekretär des Parti Socialiste (PS), bemerkte unmittelbar nach der Niederlage von Ségolène Royal gegen Nicolas Sarkozy, jetzt gehe es darum, "die Linke neu zu begründen" - bei Lichte besehen keine sehr dankbare Aufgabe und auch keine sehr aussichtsreiche.
Es war für die französischen Kommunisten ein absoluter historischer Tiefpunkt - im ersten Wahlgang am 22. April kam ihre Präsidentschaftskandidatin, die PCF-Parteivorsitzende Marie-George Buffet, auf magere, ja peinliche 1,95 Prozent, nachdem ihr Vorgänger im Amt, Robert Hue, vor fünf Jahren schon bescheidene 3,4 Prozent erreicht hatte. Auch die Grünen waren mit ihrer Bewerberin Dominique Voynet und 1,57 Prozent so schlecht wie noch nie.
Zusammen rekrutierten am 22. April die fünf linken Kandidaten aus dem Lager von Kommunisten, Grünen und Trotzkisten (Arlette Laguiller/Lutte Ouvière, Oliver Besancenot/Lique Communiste Révolutionnaire und Gérard Schivardi/Parti des Travailleurs) in der ersten Runde der Präsidentenwahl ein Potenzial von rund zehn Prozent. Selbst wenn sich die Sozialisten und diese fünf linken Gruppierungen zu einer "vereinigten Linken" (Hollande) beziehungsweise einer Parteienallianz zusammenschließen wollten, würde die momentan weniger als 40 Prozent der Wähler auf sich vereinigen, lassen die Prognosen kaum Zweifel.
Francois Hollande kündigt
In einem dramatischen Aufruf im KP-Organ L´Humanité vom 22. Mai spricht denn auch der Philosoph Michel Onfray den Sozialisten in ihrer aktuellen Verfassung jede Fähigkeit ab, "die Linke neu zu begründen". Auch die extreme Linke hält er für unfähig und befangen "im Glauben an die Revolution durch den Zauber der Bewegungen auf der Straße." Eine Sammlung der Linken sei nur möglich, wenn sich die einzige organisatorische Kraft mit politischer Erfahrung in Gemeinden, Städten, Regionen, Ministerien und Verwaltungen - also der PCF - von innen her erneuere und sich eine neue Führung gebe, bestehend aus "einer Generation, die nicht beteiligt war, als die dunkelsten Seiten der Parteigeschichte geschrieben wurden." Dass L´Humanité einen solchen Aufruf abgedruckt hat, sagt viel über die Lage in der Partei, heißt aber noch nicht, dass der PCF selbst die Kraft findet, sich zu erneuern.
Regelrecht von Auflösungserscheinungen werden die Sozialisten heimgesucht. Das führende Quartett - Ségolène Royal, François Hollande, Dominique Strauss-Kahn und Laurent Fabius - ist hoffnungslos zerstritten und nur mit viel Druck zu gemeinsamen Auftritten zu bewegen. Ségolène Royal drückte sich bisher um das klare Eingeständnis ihrer Niederlage herum und wollte gleich wieder durchstarten mit ihrem Vorschlag, jetzt müsse sofort über den Präsidentschaftskandidaten für 2012 entschieden werden. Kommentatoren haben dies zu Recht als Versuch einer feindlichen Übernahme der ganzen Partei durch eine Bezirksfürstin gedeutet. Royal will offenbar die Wählerschaft Bayrous beerben und die Sozialistische Partei zu einer "Massenpartei ohne Grenzen" umformen, sprich: nach rechts rücken.
François Hollande hingegen möchte nicht nur "die Linke neu begründen", sondern auch "die Truppen mobilisieren" für die Wahlen zur Nationalversammlung. Mit welchem Programm, sagt er nicht. Dafür mahnt er seine parteiinternen Konkurrenten, den medial vermittelten Austausch von "kleinen verbalen Boshaftigkeiten" übereinander zu unterlassen. Das hindert Laurent Fabius freilich nicht daran, die Wahlanalyse des Ersten Sekretärs als "sehr oberflächlich" zu bezeichnen und Dominique Strauss-Kahns Vorstellung einer "modernen Sozialdemokratie" als "seit 30 oder 50 Jahren veraltetes Rezept" zu geißeln. Strauss-Kahn wiederum erklärt Hollande öffentlich zum "Hauptverantwortlichen" für die Niederlage. Der kündigt danach an, dass er 2008 nach elf Jahren als Erster Sekretär nicht mehr für das Amt kandidieren werde.
Es bleibt als Fazit: trotz bevorstehender Parlamentswahlen gibt es keinen Waffenstillstand in der sozialistischen Führungsriege, sondern muntere Positionskämpfe und nicht den Anschein eines gemeinsamen Programms. Der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë spricht von einer "Identitätskrise" - aber das beschönigt den Zustand des PS in unzutreffender Weise.
Präsident Sarkozy stiftete zusätzliche Verwirrung mit der Berufung von drei Sozialisten (Bernard Kouchner, Eric Besson, Jean-Pierre Jouyet) zu Ministern beziehungsweise Staatssekretären. Neu ist das nicht. François Mitterrand installierte 1988 nach seiner Wiederwahl als Staatschef eine 49-köpfige (!) Regierung unter Premier Michel Rocard, der 23 Nicht-Sozialisten angehörten. Kouchner, der Prominenteste unter den drei Sozialisten, die Sarkozy in sein Kabinett rief, befeuert den parteiinternen Flügelkampf zwischen Sozialisten, Sozialdemokraten und Linksliberalen inzwischen mit Erklärungen wie: "Ich bin immer ein freier Mensch, ein Kämpfer für eine offene, mutige und moderne - mit einem Wort - sozialdemokratische Linke gewesen und werde es auch bleiben." Sarkozys strategisches Kalkül liegt auf der Hand: Als Außenminister könnte Kouchner dafür sorgen (müssen), dass die Themen EU und EU-Verfassung die Sozialistische Partei an den Rand einer Zerreißprobe oder gar einer Spaltung bringen.
Das Menetekel von 1993
Wahlprognosen bei Voten zur Nationalversammlung sind wegen des unberechenbaren Wahlrechts in Frankreich schwierig. Im ersten Wahlgang gilt in den 577 Wahlkreisen des reine Mehrheitswahlrecht. Zum zweiten Wahlgang sind nur Parteien wie Kandidaten zugelassen, die im ersten Durchgang wenigstens 12,5 Prozent der Wählerstimmen gewonnen haben. Das führt regelmäßig zu Kungeleien der großen mit den kleinen Parteien, denen in einzelnen Wahlkreisen Unterstützung zugestanden wird als Kompensation für deren Wahlempfehlung an die eigene Wählerschaft, in diesem oder jenem Wahlkreis einen Sozialisten beziehungsweise einen Konservativen zu wählen. Derartige Absprachen haben schon 2002 dazu geführt, die Bildung zweier Blöcke in der Nationalversammlung (s. Übersicht) mit einem marginalen Anteil von Vertretern kleiner Parteien zu verstärken. Da die Befolgung von Wahlempfehlungen nicht vorausgesagt werden kann, bleiben die Wahlprognosen vage. In diesem Jahr kommt mit François Bayrou, der bei der Präsidentenwahl 18,6 Prozent der Wähler für sich mobilisierte, und seinem neuem Mouvement démocratique ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu.
Eine Woche vor dem Votum gibt es bei den Prognosen zwei Trends. Die einen rechnen für die Sozialisten mit 120 bis 160 Sitzen in der neuen Nationalversammlung. In der jetzigen verfügen sie über 149 Mandate. Andere sehen über dem PS das Menetekel von 1993 schweben. Damals kehrten von den 275 sozialistischen Abgeordneten im alten ganze 57 in das neu gewählte Parlament zurück. Selbst wenn die optimistische Prognose zutrifft und die Sozialisten in etwa gleicher Fraktionsstärke aus den Wahlen hervorgehen sollten, stellt sich die Frage, wofür die Partei steht und wie sie ihre programmatischen Defizite überwindet.
Die Parlamentswahlen vom 9. und 16. Juni 2002
1. Wahlgang
dem 2. Wahlgang
(Nahestehende)
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