Die Zeitung Le Monde hat das Ergebnis der Europawahl als „Erdbeben, von dem das politische Leben Frankreichs erschüttert“ werde, kommentiert. Nicht ganz falsch, aber unpräzise. Es handelt sich um ein „Erdbeben“ mit zwölfjähriger Vorlaufzeit, es geht daher nicht um eine unvorhersehbare Naturkatastrophe, sondern um einen seit langem absehbaren Erdrutsch. Im Jahr 2002 besiegte Jean-Marie Le Pen, der Vater der heutigen Parteichefin Marine Le Pen, in der ersten Runde der Präsidentenwahl mit fast fünf Millionen Stimmen (16,8 Prozent) den sozialistischen Bewerber Lionel Jospin, der auf 4,6 Millionen Stimmen (16,1 Prozent) kam, und warf diesen aus dem Rennen um das höchste Staatsamt. Das gewann dann der Konservative Jacques Chirac im zweiten Wahlgang klar und eindeutig.
Auch diese Eruption galt bereits als Erdbeben. Dabei hatten sich die linken Parteien nicht auf einen oder zwei Gegenkandidaten zu Chirac und Le Pen einigen können und traten stattdessen mit sechs (!) Bewerbern plus Jospin an, die zusammen mit 13 Millionen Stimmen mehr erreichten als der Konservative Chirac. Bornierter Parteiegoismus hatte das Potenzial der linken Parteien im Vorfeld des Votums atomisiert statt gebündelt. Man muss derartige Vorgeschichten einbeziehen, um das Wahldesaster vom 25. Mai zu verstehen.
Jean-Marie Le Pen gründete den Front National (FN) 1972. Verfolgt man dessen Geschichte anhand der Wahlergebnisse, ergibt sich folgendes Bild: Aus fast jeder Abstimmung ging die nationalistische Rechte auf allen Ebenen von Kommunal- und Regionalvoten bis zu Parlaments-, Präsidentschafts- und EU-Wahlen gestärkt hervor. Dazu nur zwei Zahlen: Vater Le Pen kam 2007 als Präsidentschaftskandidat noch auf 7,5 – die Tochter fünf Jahre später auf 17,9 Prozent. Ihre Hoffnungen auf einen Sieg bei der Präsidentenwahl 2017 sind dann nicht unrealistisch, wenn von einer niedrigen Wahlbeteiligung ausgegangen wird. Denn keine Mehrheit „der“ Franzosen steht hinter dem FN. Bei einer Wahlquote von 40 Prozent bei der Europawahl haben nur etwa zehn Prozent aller Wahlberechtigten für einen FN-Anteil von 24,8 Prozent gesorgt.
Freilich verschleiert das geltende Mehrheitswahlrecht bei Entscheidungen über die Nationalversammlung die Stärke der Ultranationalisten. Bisher verhindern Wahlkreis-Deals zwischen Konservativen und Sozialisten, dass sich der Wähleranteil des FN auch in Mandaten niederschlägt. Für die Parti Socialiste (PS) wie die bürgerliche Union pour un Mouvement Populaire (UMP) ist dieses Wahlrecht ein Ruhekissen, – für den FN eine Überlebensversicherung. Es liefert ihm Munition für seine Dauerpolemik gegen die „Systemparteien“ und ihre Klüngeleien. Auch das Publikum sieht das Wahlrecht vermehrt als das, was es de facto ist – eine pseudodemokratische Farce.
Familienhäuptlinge
François Mitterrands kurzlebige Einführung des Verhältniswahlrechts war nur ein – gescheiterter – Taschenspielertrick, mit dem die Konservativen geschwächt werden sollten, indem man dem FN den Einzug in die Nationalversammlung ermöglichte. Seither läuft das Spiel andersherum: Teile der Konservativen schielen permanent auf eine Kooperation mit dem Front National, um als „vereinigte Rechte“ eine linke Mehrheit auszubremsen.
Unter den maßgebenden Gründen für den Wahlerfolg des FN ist das französische Parteienwesen zweifellos ein entscheidender. Mit Ausnahme der PCF (Parti Communiste Français) gab es in Frankreich nie eine wirkliche politische Partei, das heißt eine Organisation mit flächendeckenden Strukturen und breiter Mitgliedschaft. In ihren besten Zeiten unter Mitterrand erreichte die PS ansatzweise den Übergang von der „Lehrer- und Beamtenpartei“ zur Volkspartei mit landesweiter Verankerung. Heute sind auch PCF und PS wieder zu dem geworden, was die anderen französischen Parteien immer waren und blieben: Wahlvereine ohne lebendigen strukturellen Unterbau aus Sektionen, Zellen und Ortsvereinen, stattdessen Honoratiorenklubs, „Familien“ und Strömungen. Deren Häuptlinge erobern in lokalen oder regionalen Voten gern Ämter, die ihnen die materielle Existenz sichern. Während ihre politische Existenz davon abhängt, ob es ihnen gelingt, auf nationaler Ebene in der eigenen Partei wie in den Medien Einfluss zu haben und Geld lockerzumachen für die jeweilige Kommune oder Region. Der Trend zur Personalisierung der Politik hat dieses Muster in den vergangenen Jahren noch verstärkt.
Abgesehen davon erklärt sich der Erfolg des Front National damit, dass die mittleren und unteren Schichten der Bevölkerung – Arbeiter, kleine Angestellte, Bauern – von der Wirtschaftskrise hart getroffen werden. Ganz zu schweigen vom Heer der Arbeitslosen (elf Prozent oder fast fünf Millionen Menschen). Frankreichs Ökonomie bleibt seit sechs Jahren Wachstumsraten schuldig. Ganze Branchen, besonders die Schwerindustrie im Norden, sind verschwunden. Es entstanden vernachlässigte Milieus, in denen die demagogisch nationalistische FN-Propaganda auf immer größere Resonanz stößt. Wo die soziale Depression Wurzeln schlägt – im Norden, im Osten und im Südwesten –, kommt Marine Le Pen zwischenzeitlich mühelos auf 30 Prozent. Während des Wahlkampfes meinte sie: „Die Regierenden haben es geschafft, eines der größten Länder der Welt in die Pleite zu treiben. Wir sind wie Griechenland. Wie kann es sein, dass Frankreich seine Identität verloren hat und seine Stimme in der Welt?“
Gegenüber den Ghettos der Vorstädte, in denen sich seit Jahrzehnten Einwanderer aus Nordafrika konzentrieren und soziale Konflikte wie in einem Treibhaus gedeihen, überboten sich konservative wie sozialistische Regierungen jahrzehntelang in ihrer Realitätsverweigerung. Sie reagierten auf die in gewissen Abständen erfolgenden Explosionen der Wut und Verzweiflung mit rigorosen Polizeieinsätzen. Nicolas Sarkozy sprach öffentlich von „Gesindel“, das nur die Sprache harter Repression verstehe und mit dem Hochdruckreiniger „Kärcher“ gebändigt werden müsse. Angesichts solcher Töne fiel es dem Front National leicht, seine Melodie beim Stimmenfang um rassistische Refrains gegen Ausländer und Einwanderer zu ergänzen.
Salonfähige Propaganda
Während die Regierungen in Paris seit Jahrzehnten Milliarden Francs oder Euro in Elitehochschulen investieren, verrotten die „normalen“ Schulen und Hochschulen. Ein marodes Berufsbildungskonzept setzt bis zu einem Viertel der Schulabgänger sozusagen automatisch auf die Straße und verurteilt die Betroffenen zu prekärer Beschäftigung ohne Mindestlohn, der in Frankreich nur in Ansätzen existiert. Auch eine dadurch stimulierte Jugendkriminalität nützt die Propaganda des FN virtuos aus. Angesichts der Ohnmacht staatlicher Autoritäten gegenüber solchen Zuständen brauchen die nationalistischen Hardliner gar keine Alternativen mehr anzubieten – es reicht, ausufernde Missstände anzuprangern, um die „Systemparteien“ zu entlegitimieren. Was bei dieser Gelegenheit rhetorisch serviert wird, sind Scheinalternativen der Sorte: „National statt global“ oder „Paris statt Brüssel“.
Doch würde allein die sieche französische Landwirtschaft bei einem Rückzug aus der EU vollends kollabieren und einer Art Restlaufzeit entgegensehen. Keine Frage, diese nationalistische Zurüstung des Krisendiskurses verfängt bei einem Teil der Wählerschaft, die von konservativen Politikern jahrelang mit nationalen Beschwörungsritualen ruhig gestellt wurde. So wie Marine Le Pen von den Korruptionsskandalen der UMP profitiert, so profitiert der Nationalismus der extremen Rechten längst vom salonfähigen Nationalismus der bürgerlichen Konservativen und von deren Hetze gegen Roma, „gefährliche Ausländer“ und „kriminelle Einwanderer“ .
Trotz des FN-Erfolgs und des Stimmenzuwachses der United Kingdom Independence Party (UKIP) in Großbritannien oder der Volkspartei in Dänemark wachsen die Bäume der Rechten im EU-Parlament bestimmt nicht in den Himmel. Es ist sogar unsicher, ob die 15 rechtsnationalistischen Parteien eine Fraktion zustande bringen, wofür 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Ländern nötig wären. In der Legislaturperiode 2009–2014 sind sie daran gescheitert.
Rudolf Walther ist Publizist und Historiker. Er lebt in Frankfurt am Main
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