Nach dem Mord am Filmemacher Theo van Gogh diagnostizieren viele Zeitungen das Ende von Toleranz, Multikulturalität oder gleich - und großspurig wie immer - das Ende von "Europas Lebenslüge" (FAZ). Wo sich dabei nicht das pure Ressentiment austobt, das seinen Chauvinismus mit Zweifeln an der Demokratietauglichkeit "des" Islam tarnt, geht es um wohlfeile Schnelldiagnosen. Ein Wettlauf um den flottesten Schuss aus der Hüfte. Für viele hat bereits ein ultimativer "Kampf der Kulturen" oder ein "neuer Kulturkampf" begonnen - das greift entschieden zu kurz.
Multikulturalität ist kein Zug, in den man nach Belieben ein- und aussteigt. Die nationale, ethnische, religiöse Durchmischung der westeuropäischen Gesellschaften ist keine Option, sondern eine Realität. Die Frage ist, ob und wie diese Gesellschaften in der Lage sind, mit dieser Herausforderung umzugehen. Es spricht für die politisch-moralische Verblendung und intellektuelle Verbiesterung extremistischer Akteure auf beiden Seiten, wenn aufeinander mit Mord oder dem Brandschatzen von Moscheen, Kirchen und Islamschulen reagiert wird.
Der Schriftsteller Leon de Winter brach den Konflikt auf die Stammtischformel herunter, "radikale Muslime und radikale Demokraten" könnten eben nicht zusammenleben. Was haben die vermeintlich radikalen Demokraten für das Zusammenleben von Bürgern unterschiedlicher Herkunft und Religion wirklich getan? Es nützt einem jungen Holländer nordafrikanischer Herkunft genauso wenig wie einem jungen Franzosen aus einem Pariser Vorort, dass sie sprachlich perfekt integriert sind. Bei der Suche nach einem Job sind sie wegen ihrer Hautfarbe und oft schon wegen ihres Vornamens so chancenlos wie beim Versuch, eine Diskothek zu besuchen. Bei jungen Frauen genügt das Kopftuch, um sie ins soziale Abseits zu stellen. Wie eine permanente Erniedrigung aller Muslime wirken zudem die Bilder von der US-Kriegführung im Irak, besonders in Falludscha.
Die Art und Weise, wie die Mehrheitsgesellschaft und ihre Medien über "den" Islam reden und dabei "Islam" und "Islamisten", Religion und Ideologie einfach gleichsetzen, nimmt mittlerweile groteske Züge an. Nur drei Beispiele: Die Neue Zürcher Zeitung wie die FAZ sprechen von "islamischem Extremismus", als ob die Religion die Quelle der politischen Ideologie wäre. Innenminister Schily und Teile von SPD und CDU/CSU wollen das Grundgesetz ändern, um dem Bundeskriminalamt Sondervollmachten zur Straftat unabhängigen, das heißt präventiven Fahndung einzuräumen - und zwar ausschließlich gegen "den islamistischen Terror". In einer Feierstunde zum 9. November erklärte der Sprecher der jüdischen Gemeinde in der Frankfurter Paulskirche den "Islamismus" ohne jede Differenzierung zum "globalen, totalen und machtvollen" Gegner aus dem "Mittelalter", dem er "die Moderne" entgegensetzte.
Gut einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September machte Jürgen Habermas in seiner Friedenspreisrede im Oktober 2001 auf die Folgen solch hochmütigen Abendländertums aufmerksam. Eine Moderne, die nur ihre Sprache kennt und alles Andere unter ihren Assimilationsdruck setzt, wird ihren eigenen Toleranzansprüchen nicht gerecht. Toleranzgebote richten sich nicht nur und nicht vorrangig an Minderheiten, sondern sind primär das Problem von definitionsmächtigen säkularen Mehrheiten. Zwischen die kulturkämpferische Front von weltlicher Politik und traditionaler Religion brachte Habermas als "dritte Partei" den demokratisch aufgeklärten common sense ins Spiel: Dieser verlangt von allen Religionen, dass sie ihren Glauben in eine säkularen Bürgern verständliche Sprache übersetzen und von diesen, dass sie "religiösen Sprachen" zuhören. Beide Seiten müssen lernen, die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen, weil ein Zusammenleben allein auf der Basis von Warentausch, Verträgen und Nutzenmaximierung keine Stabilität verheißt.
Ausgerechnet aus Frankreich, wo sich die Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Ansprüchen religiöser und kultureller Minderheiten hinter einem militanten Laizismus beziehungsweise Republikanismus verschanzt, der sich mit dem Hinweis auf die legale Gleichheit den realen sozialen Ungleichheiten verschließt, sind neue, wenn auch nicht ganz reine Töne zu vernehmen. Der als konservativer Hardliner bekannte Wirtschafts- und Finanzminister Nicolas Sarkozy unternimmt in seinem Buch mit dem Titel Die Republik, die Religionen, die Hoffnung einen Revisionsversuch. Schon als Innenminister sprach er nicht nur mit muslimischen Organisationen, sondern gründete mit ihnen den Conseil français du culte musulman. Dieser fungiert als Ansprechpartner des Staates. Sarkozy will einen "französischen Islam", um die Herausbildung einer islamischen Parallelgesellschaft zu verhindern. Ein blau-weiß-rot imprägnierter Islam wäre für ihn keine Gefahr, sondern ein Integrationsfaktor.
Eindringlich warnt Sarkozy den Staat davor, "die Methoden des Extremismus" zu übernehmen und verpflichtet ihn darauf, "den andern so zu akzeptieren, wie er ist." - Was solche Sätze für die praktische Politik bedeuten, ist unklar. Immerhin verteidigt der Autor auch das Gesetz, wonach das Tragen von Kopftüchern in den Schulen verboten ist. Der gläubige Katholik Sarkozy hält "Hoffnung auf ein besseres Leben" für das Zentrale im Zeitlichen wie im Jenseits: "Politik ist das Leben. Religion ist das Leben". Mit dieser forschen Parallelisierung lässt sich freilich auch die Differenz von öffentlich und privat, eine der Signaturen der Moderne, rückgängig machen.
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