Neun Städte sind ein Anfang

Frankreich Die überraschende „grüne Welle“ bei der Kommunalwahl hatte viel mit den Besonderheiten des Wahlrechts zu tun – aber nicht nur damit
Ausgabe 27/2020
Gregory Doucet ist Mitglied der französischen Grünen und seit Ende Juni neuer Oberbürgermeister von Lyon
Gregory Doucet ist Mitglied der französischen Grünen und seit Ende Juni neuer Oberbürgermeister von Lyon

Foto: Jeff Pachoud/AFP/Getty Images

Der Ausgang dieser Kommunalwahl ist ganz erheblich einer Besonderheit des französischen Wahlrechts zuzurechnen. Es erlaubt nur Parteien, die im ersten Wahlgang wenigstens 12,5 Prozent der Stimmen erreicht haben, in der zweiten Runde nochmals anzutreten. In der setzt sich dann durch, wer die relative Mehrheit gewinnt. Dadurch wurden Empfehlungen für das Wahlverhalten und Absprachen zwischen den derzeit gleichermaßen schwachen Parteien der Rechten, der Linken und der Mitte notwendig. Besonders La République en marche (LREM), der Wahlverein von Präsident Macron, und Europe Écologie – Les Verts (EELV) standen damit vor der Entscheidung, ob sie sich nach links, hin zu sozialistischen und anderen ökologischen Parteien, wenden oder ihr Heil weiter rechts bei den konservativen Les Républicains (LR) suchen sollten.

Diese Ausgangslage verlangte vor allem von den notorisch zerstrittenen und bündnisunfähigen linken Gruppierungen ein hohes Maß an vernünftigem Pragmatismus. Was sich auszahlte. Denn nur den Wahlallianzen von Grünen und Linken ist zu verdanken, was nunmehr als Frankreichs „grüne Welle“ gefeiert wird. In neun größeren Städten – darunter Lyon, Straßburg, Bordeaux, Besançon, Poitiers, Grenoble und Marseille, ebenso in der Hauptstadt – führten diese Bündnisse dazu, dass es grüne Bürgermeister gibt beziehungsweise die Sozialistin Anne Hidalgo in Paris Stadtoberhaupt bleiben kann.

Der Versuch von Emmanuel Macrons Partei, in Straßburg und an 76 anderen Orten aussichtsreiche grüne und linke Kandidaten durch eine Annäherung an die Konservativen zu verhindern, scheiterte so grandios wie auch alle anderen Versuche der Präsidentenpartei, in größeren Städten wieder Fuß zu fassen. So endeten diese Kommunalwahlen für La République en marche als dreifaches Fiasko: Entgegen der Annahme, die am Boden liegenden Sozialisten seien definitiv am Ende, konnte sich der Parti socialiste (PS) in traditionellen Hochburgen wie Dijon, Nantes, Rennes, Lille und Nancy halten. Auch die Konservativen verschwanden nicht, sondern gewannen etwa die Hälfte der Orte mit über 9.000 Einwohnern. Schließlich war Macrons Partei in „La France profonde“, also auf dem Land, oftmals schon die Teilnahme an der Stichwahl verwehrt. Da sie in der Nationalversammlung drei Jahre nach ihrem triumphalen Sieg keine Majorität mehr besitzt, ist anzunehmen, dass unverkennbare Auflösungstendenzen andauern. 17 LREM-Abgeordnete haben bereits die eigene Fraktion Écologie, Démocratie, Solidarité (EDS) gegründet. Dieser Name enthält, wofür Macron einmal angetreten ist, aber heute nicht mehr steht, wie laut Umfragen fast vier Fünftel der Bürgerinnen und Bürger glauben. Schon vor dem Votum hatte der Staatschef angekündigt, sein Programm nach den Wahlen präzisieren zu wollen. Mit welchem Resultat? Bleibt nur noch ein Schulterschluss mit den Konservativen? Eher unwahrscheinlich, das könnte ihn auch noch den Rest des Vertrauens einst bedingungsloser Macronisten kosten. Ist stattdessen mit einer radikalen ökologischen Wende zu rechnen, wie Macron angedeutet hat?

Zu den erfreulichen Konsequenzen dieser Wahlen gehört, dass Marine Le Pens Rassemblement National (RN) nur in einer größeren Stadt (Perpignan) den Bürgermeister stellen wird. Demokratisch bedenklich ist dagegen der Absturz der Wahlbeteiligung von 62 Prozent (2014) auf einen Wert knapp unter 40. Wenn der Demokratie die Wähler davonlaufen, wird es bedenklich.

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