Am überraschendsten bei der jüngsten Kommunalwahl in Frankreich war wohl der Erfolg von Linken und Grünen in Marseille, der zweitgrößten Stadt des Landes. Hier regierte in den vergangenen 24 Jahren der Konservative Jean-Claude Gaudin (einst: Union pour un Mouvement Populaire/UMP) als Bürgermeister. Dabei galt Marseille bis 1986 als die rote Stadt schlechthin. Seit 1953 – also 33 Jahre lang – stellte hier der Parti Socialiste (PS) mit dem legendären Gaston Defferre (1910 – 1986) den „ewigen“ Bürgermeister. Dass der unerwartete Machtwechsel in Marseille jetzt zustande kam, liegt am politischen Geschick einer Frau: der 63-jährigen Michèle Rubirola.
2018, nachdem sie als Mitglied der Partei Europe Écologie – Les Verts (EELV) angekündigt hatte, bei den Kommunalwahlen mit der unabhängigen Liste „Printemps Marseillais“ (Marseiller Frühling) und dem Emblem einer grünen Sonne anzutreten, wurde sie vom Pariser Juste Milieu der Grünen umgehend suspendiert. Sie ließ nicht ab von ihrem Vorhaben und brachte schließlich Sozialisten, Kommunisten, die Linkssozialisten von Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, den Parti Radical de Gauche und kleinere Gruppen so weit, die Konservativen mit einer gemeinsamen Liste von der Macht im Rathaus verdrängen zu wollen. Nach dem ermutigenden Resultat im ersten Wahlgang (23,4 Prozent) trat im Mai auch die lokale Partei der Grünen der Allianz „Printemps Marseillais“ bei. Es blieb für Michèle Rubirola ein hartes Stück Arbeit, den „Krieg“ unter den lokalen Größen einer zersplitterten Linken (fast ausnahmslos Männer) zu beenden. Ohne ein derart pluralistisches Bündnis wäre ihr Sieg undenkbar gewesen in einer von Verfall, Verwahrlosung, Korruption und Vetternwirtschaft gezeichneten Stadt. Auch schon vor der Abstimmung schienen die Aussichten für Michèle Rubirola erkennbar gut. Sie kämpfte gegen den Plan einer öffentlich-privaten Partnerschaft zur Sanierung der maroden Schulhäuser mit einem Volumen von einer Milliarde Euro. Das Projekt hatte die städtische Oligarchie aus konservativen Politikern, Bankern, Architekten und Bauunternehmern lanciert. Dass es Gestalt annehmen konnte, wurde durch eine links-grüne Gegnerschaft im Stadtparlament, ebenso das Eingreifen von Bürgerschaft und Gewerkschaften gerade so verhindert. Dieser Erfolg musste den Kommunalwahlkampf von Rubirola beflügeln.
Die 1956 geborene Politikerin ist die Enkelin von Einwanderern aus Spanien und Italien. Sie studierte Medizin, eröffnete danach ihre erste Praxis in einem Armenviertel von Marseille und kümmerte sich um ein Programm der Patientenedukation für chronisch Kranke, das von der Krankenversicherung getragen wurde. Politisch sozialisiert wurde sie in der Umweltbewegung, das heißt im Kampf gegen eine verstärkte militärische Nutzung der Hochebene des Larzac in Okzitanien, gegen den Bau von Kernkraftwerken und des Schnellen Brüters im Tal der Rhône.
Im Wahlkampf jetzt hatte sich Rubirola vorrangig zwei Themen verschrieben. Der Diskriminierung von Einwanderern und Flüchtlingen, aber auch von Alteingesessenen, „die mit weniger als 950 Euro pro Monat auskommen müssen“. Sie sprach von „Elend und Armut“ als „Geißeln unserer Stadt“. Zugleich widmete sie sich der seit Langem ausufernden Vetternwirtschaft einer Clique aus städtischer Administration und Geschäftsleben, dazu dem Kampf gegen die kleine wie Organisierte Kriminalität. Keine andere Großstadt in Frankreich haben mafiaähnliche Strukturen aus Wirtschaft, Politik und Clans über Jahrzehnte derart erfasst wie Marseille. Der Niedergang dieser Stadt ist mit Händen zu greifen, zuletzt beim Einsturz von zwei Wohnhäusern direkt im Zentrum, bei dem acht Menschen ums Leben kamen.
Ob und inwieweit der Erfolg von Rubirola ein Muster liefern kann, bleibt offen. Aber auf jeden Fall hat sie gezeigt, welche Strategie linker und grüner Parteien allein aussichtsreich sein könnte, um der Ohnmacht arg geschrumpfter Akteure zu entkommen. Präsident Macron hält bekanntlich den Gegensatz zwischen links und rechts für überholt. Er hat sich darauf verlegt, alles offenzuhalten, um Wähler einerseits durch eine sozialökologische Agenda zu gewinnen und ihren Stammparteien zu entfremden. Andererseits kann er sich für konservative Ziele entscheiden, um Restbestände von Gaullisten und Zentristen zu beerben. Nach den Kommunalwahlen spricht einiges für einen Schwenk nach rechts. Demnach wäre ein grün-linker Zusammenschluss, wie ihn Michèle Rubirola ermöglicht hat, geeignet, um das strategische Kalkül Macrons zu durchkreuzen, seine Politik als gleichzeitig „rechts und links“ auszugeben, aber im Ernstfall dorthin abzubiegen, wo eine Mehrheit winkt.
Von nationaler Reichweite ist Rubirolas Agieren mindestens genauso, geht es darum, sich gegenüber dem rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen zu behaupten. Rubirola liefert eine bündige Antwort auf die in Deutschland gern bemühte These, wonach mit einer Machtübernahme Le Pens zu rechnen sei, wenn man nicht Macron beistehe. Flankiert wird diese Ansicht in der Regel durch einen abstrusen Verriss: Bei Protestszenen wie den „Gelbwesten“ (Gilets Jaunes) handele es sich um „nützliche Idioten“, die nichts anderes täten, als das Geschäft der Rechten zu besorgen.
Emmanuel Macron hat mit der Kabinettsumbildung und einem Schwenk nach rechts jene taktische Wendigkeit bewiesen, die ihm ab 2022 eine zweite Präsidentschaft sichern soll. Trotz aktuell miserabler Umfragewerte scheint die noch möglich. Michèle Rubirola hat mit ihrem „Marseiller Frühling“ vorgemacht, wie das zu verhindern wäre.
Kommentare 8
Wie ich spätestens in meiner zweiten Ehe am eigenen Leib erfahren habe: Frauen sind zuweilen die besseren Männer.
da kann ich nur zustimmen ;-)
Ich denke, Menschen die auf eine bestimmte Art und Weise sozialisiert wurden mit allen Erfahrungen, menschlichen Begegnungen u.s.w. sind solche sozusagen Vereiniger,Das war gut zu lesen.
In der Tat. Das war gut zu lesen. Aber was gut zu lesen ist, ist damit noch nicht zwangsläufig richtig.
Die ins Feld geführten "menschlichen Begegnungen" fallen im Einzelfall höchst unterschiedlich aus. Frau Rubirola ist vermutlich über jeden Zweifel erhaben - da die einenden Inhalte eine soziale Qualität zu besitzen scheinen.
Frau Rubirola nehme ich das gerne ab. Anderen Frauen, die auf der Klaviatur der Selbstdarstellung lautstark medial wirksame Begriffe nutzen, eher weniger. Stichwort: Janusköpfigkeit.
In dem Beitrag wurde nur beschrieben, wie sich was entwickelte und dann mit ebend gestalterische Macht bekam.Es bleibt abzuwarten- pessimistisch betrachtet- was weiter verändert werden wird.Ihre Sozialisation und mir ist sie sympathisch lassen mich positiv das Ganze betrachten.
Andere Frauen- da fallen mir die Grünen ein mit Frau Göring Eckhardt kann ich nichts anfangen.Natürlich sind Frauen auch aktiv im Selbstdarstellungszirkus und wir leben ja in so einer Zeit.
Wenn ich Ihre Worte richtig verstanden habe, gibt es eine Schnittmenge zwischen unserer beider Ansichten und Einsichten:
In einer Welt wie der gegenwärtigen schlummert im (oder neben dem) "Bösen" auch das "Gute". Anders formuliert: jede Kraft erzeugt Gegenkräfte. Zuckerberg und Bezos auf der einen Seite, Edward Snowden und Max Schrems auf der anderen. Was mir jedoch fehlt, ist - seit dem krachenden Niedergang von Aufstehen.de - die Überzeugung an ein Gelingen des "Guten". Es besteht keine Balance zwischen beiden Seiten, die Schieflage zwischen Macht/ Reichtum und Ohnmacht/ Armut wird stetig größer.
Es existiert keine Gleichheit der Mittel - und der Chancen. Jüngere Menschen mögen sich von diesem Pessimismus bitte nicht anstecken lassen: mit den Jahren macht das Kämpfen müde.
Als begeisterungsfähiger Mensch würden meine Worte in Frankreich sicherlich anders ausfallen.
Vive Michèle Rubirola!
Es ist gut, dass es auf der Linken derartige Ausnahmepolitiker hat – egal ob Frau oder Mann (wobei ich mit Griff in die Praxiskiste gern einräume, dass Frauen – siehe Ada Colau in Barcelona oder auch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo – speziell in den kommunalen Zusammenhängen ein besseres Händchen haben).
Ansonsten ist Marseille eine harte Nuss. Man muß die Geschichte der Korruption mit berücksichtigen, in die speziell die Sozialisten tief involviert waren. Ebenso die French Connection – also die korsische Mafia, die in der Stadt lange ein die Politik mitbestimmender Faktor war. Das Programm von Rubirola jedenfalls scheint in die richtige Richtung zu zielen. Wobei stets ein Augenmerk darauf gerichtet sein sollte, inwieweit es ihr gelingt, die in der Region sehr starken Faschisten vom Rassemblement National zu neutralisieren.
Zitat: "In einer Welt wie der gegenwärtigen schlummert im (...) "Bösen" auch das "Gute". Anders formuliert: jede Kraft erzeugt Gegenkräfte. Zuckerberg und Bezos auf der einen Seite, Edward Snowden und Max Schrems auf der anderen."
Das ist (leider) nicht nur gegenwärtig so, dieses Hin und Her ist offenkundig ein elementares Prinzip, denn es zieht sich durch die Geschichte der Menschheit.
Man muss dazu keine 2000 Jahre zurückgehen bis zu diesem bekannten pazifistischen Sozial- und Gesellschaftskritiker, der den extremen Reichtum, die Geldverleiher und Spekulanten anprangerte und sich für die Armen, Kranken, Behinderten usw. einsetzte. Was hat die real existierende Politik der "C"-Parteien unter Führung von Frau Merkel, Herrn Söder usw. mit diesem pazifistischen Sozial- und Gesellschaftskritiker von damals zu tun?
Es ist noch nicht so lange her, da wählten 1933 fast 44 Prozent der Deutschen freiwillig ihren einen Diktator, obwohl es warnende Stimmen gab "Wer Hitler wählt, wählt den Krieg". Der Widerstandskämpfer Georg Elser, der 1939 mit seinem Anschlag auf den "größten Führer aller Zeiten" den Krieg verhindern wollte, wurde nach Kriegsende jahrzehntelang verleugnet und diffamiert. Von manchen "Qualitätsjournalisten" z. B. der "Welt" wird er auch heute noch diffamiert.
Von denjenigen, die in DDR vor dem Mauerfall Kopf und Kragen riskiert haben und gegen die DDR-Diktatur und für Demokratie, Menschenrechte usw. auf die Straßen gingen, redet heute fast niemand mehr. Stattdessen wählen die Deutschen seit Jahren, wenn auch nur mittelbar, eine Opportunistin des DDR-Regimes mit dem Namen Angela Merkel zur Bundeskanzlerin.
Zitat: "Es existiert keine Gleichheit der Mittel - und der Chancen. Jüngere Menschen mögen sich von diesem Pessimismus bitte nicht anstecken lassen ..."
Diese Gleichheit der Mittel und Chancen hat es leider auch noch nie gegeben. Der "kleine" David hatte es schon immer schwerer gegen den großen "Goliath" anzukämpfen.
Nichtsdestoweniger braucht die Menschheit solche Menschen. Man braucht Zugpferde, Idole, Galionsfiguren oder wie immer man sie nennen will, sonst gewinnen immer die Oligarchen, Kriegstreiber, Diktatoren und Sklavenhalter. Das gilt aber nicht nur für junge Zugpferde wie Greta Thunberg, sondern auch für ältere Semester wie Jeremy Corbyn (GB/UK) oder Bernie Sanders (USA). Manchmal gewinnt auch der David gegen den Goliath.