Es darf bezweifelt werden, ob sich die Berliner SPD im Klaren war, was sie tat, als sie eine Debatte über Werte und Werteunterricht anzettelte. Das ist nämlich nicht nur ein weites, sondern auch ein recht vermintes Feld. Zweierlei sei vorangestellt: Jede Debatte über Werte ist unabschließbar - trotzdem sind Debatten über Werte und die Vermittlung von Werten unumgänglich.
Unabschließbar sind derartige Debatten deshalb, weil es nicht allzu viel argumentativen Geschicks bedarf, um einen Wertebegriff so auf- und zuzurüsten, dass er einer Person oder einer Gruppe in den Kram passt, aber nicht als allgemein verbindlich akzeptiert werden kann. Wenn Kardinal Ratzinger vor seiner Wahl zum neuen Papst von Menschenwürde sprach, gab es zwar auch mit liberalen Katholiken und Nicht-Katholiken Berührungen, aber ein vollständiger Konsens konnte angesichts des dogmatischen Gepäcks, das Ratzinger dem Begriff aufschnallte, kaum zu erzielen sein. In diesem Sinne sind Wertedebatten unabschließbar.
Einigung über Werte ist in komplexen Gesellschaften in der Regel nur erzielbar, wenn man die Werte nicht allzu präzise umschreibt, aber dafür mit um so größerer Sorgfalt und rechtlich verbindlich festschreibt, welche Rechtsansprüche jeder Einzelne daraus ableiten kann und welche Rechtspflichten jedem daraus entstehen. Was resultiert etwa arbeits-, zivil-, straf- und sozialrechtlich aus dem Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar?" In diesem Sinne sind Debatten über Werte und deren Vermittlung unumgänglich.
Die Existenz von Religionen ist ein Faktum und der Religionsunterricht rechtlich garantiert. Sicher - die fortschrittstrunkene Arroganz, Religionen würden von allein verschwinden unter dem Licht der Aufklärung und im Sog des Wirtschaftswachstums, hat sich überlebt. Auch multikulturell-liberale Gesellschaften können Religionen nicht einfach als Anachronismen und Gläubige pauschal als Relikte von vorgestern abtun, sondern müssen sich sensibilisieren für die "Artikulationskraft religiöser Sprachen" (Jürgen Habermas). Wenn Gläubige einfach ausgegrenzt werden, erhöht sich nur die Sprengkraft brodelnder Konflikte, die an der Oberfläche als religiöse erscheinen, aber im Kern zumeist ökonomische und soziale sind. Andererseits müssen die Religionen, um ernstzunehmende Gesprächspartner zu bleiben, von ihrem hohen Ross steigen. Weder die christliche noch andere Religionen haben die Werte für sich gepachtet, wie der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber unterstellt, wenn er den Werteunterricht als "seelenlos" diffamiert. Die CDU und die Kirchenoberen heulen nun auf, als ob das Abendland untergehe, die Kirchen enteignet und der Religionsunterricht abgeschafft würden, sollte das Fach Werteunterricht für alle Schüler eingerichtet werden. Die CDU - sie wollte noch vor Monaten eine Debatte über Patriotismus lancieren, die schmählich versandete, bevor sie richtig begann - hofft offenbar auf Dividenden aus dem römischen Papst-Rummel.
Ob man das Fach Werteunterricht, Ethikunterricht, Lebenskunde oder wie auch immer nennt, ist ziemlich egal. In der Sache geht es darum, dass komplexe multikulturelle Gesellschaften immer stärker darauf angewiesen sind, dass jemand dafür zuständig ist, ethische, politische und rechtliche Minimalstandards zu vermitteln - das heißt, die Grundwerte des Zusammenlebens in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Dieses Basiswissen ist nicht allein Wissen, sondern verhilft auch zu Haltungen, die Schülern altersgemäß und undoktrinär vermittelt werden müssen, weil dazu weder Elternhaus noch gar Medien in der Lage sind, die ökonomisch davon leben, Standards humanen Zusammenlebens profitbringend zu unterlaufen. Gute Schulen - mit Sicherheit nicht Parteiklüngel - können Schulen der Demokratie sein, weil hier theoretisch und alltagspraktisch die bestimmenden Werte des Zusammenlebens gelehrt, gelernt und praktiziert werden. Nur rundum Vernagelte bezeichnen die Notwendigkeit eines solchen gemeinsamen Unterrichts für alle als "staatliche Weltanschauungsdiktatur" wie die Frankfurter Allgemeine.
Eine solche Praxis benötigen nicht nur alle Schüler, sondern alle Schüler gemeinsam - nicht aufgespalten in ethnische, religiöse oder geschlechtliche Lerngruppen. Was die anerkannten Kirchen darüber hinaus an Religionsunterricht anbieten, ist deren Sache.
Von außen gesehen erscheint die Debatte über den Werteunterricht so exotisch wie das Gezänk um das Dosenpfand, die Klein- und Groß-, Zusammen- und Getrenntschreibung oder andere Politpossen. Was in Frankreich "Republik", "Republikanismus" und "Gleichheit" faktisch bedeuten, ist nicht sonderlich klar. Aber unbestritten ist dort von links bis rechts, dass die Schule und nur die Schule dafür zuständig ist, den Schülern die Standards und Wertorientierungen für republikanisches Denken, Verhalten und demokratisches Zusammenleben zu vermitteln. Ob es um Chancengleichheit, Gewalt an der Schule oder Schulversagen geht, die Antworten der Erziehungsminister - vom Sozialisten Jacques Lang bis zum Konservativen François Fillon - sind identisch. "Es ist nicht normal, dass die Chancen des sozialen Aufstiegs heute geringer sind als vor 30 Jahren", schreibt Fillon. "Ich bin Anhänger einer Schule, die eine der Ethik, des Zusammenlebens und der Liebe zu Frankreich ist. Wenn wir die Grundlagen eines republikanischen Pakts einrichten wollen, ist es unumgänglich, ethische und soziale Standards im Zentrum des Schulsystems zu platzieren." Außer dass man hierzulande seit Gustav Heinemanns berühmtem Satz Menschen - und nicht das Land oder den Staat - lieben sollte, ist dem nichts hinzuzufügen.
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