Die deutsche Sozialdemokratie hat - nicht nur im Rahmen der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegungen - eine exquisite Sonderstellung. Sie kann nämlich gleich zwei Geburtstage vorweisen: den 23.Mai 1863, als Ferdinand Lassalle und zwölf weitere Delegierte in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gründeten, und den 7. August 1869, als 262 Delegierte und etwa 100 abtrünnige Lassalleaner in Eisenach nach wüsten Fraktionskämpfen die Sozialdemokratische Arbeiterpartei aus der Taufe hoben. Die These, das konstitutive Doppelgesicht der SPD (diesen Namen hat sie nach dem zwölfjährigen Verbot durch Bismarck 1891 angenommen) habe in der hybriden Doppelgeburt seinen Ursprung, wäre einmal der wissenschaftlichen Überprüfung wert. Immerhin plädierte Karl Kautsky schon 1888 entschieden dafür, die erste Geburt einfach zu verleugnen: »Es gilt, der Legende den Garaus zu machen, als habe Lassalle die Sozialdemokratie geschaffen.« Wie im richtigen Leben, so bürgt auch im sozialdemokratischen Parteileben das hohe Alter und eine alles in allem genommen respektable Geschichte für gar nichts.
Auf jeden Fall wartet die alte Dame SPD immer mal wieder mit Überraschungen auf - in jeder Preislage. Zuletzt zeigte Kanzler Schröder ganz unsozialdemokratisch Standfestigkeit gegenüber dem offenen US-Hegemoniestreben und verweigerte die Einbettung in die Koalition der Angriffskrieger. Die notorisch Willigen unter den deutschen Intellektuellen legten daraufhin wieder - wie schon im Golfkrieg von 1991 - die Anti-Amerikanismus-Platte auf, diesmal ohne den Israel-Gasmasken-Refrain und entsprechende Bilder aus Kindergärten und Altersheimen, weil die Technologie, über die der Irak 1991 schon nicht verfügte, nämlich chemische und biologische Kampfstoffe nicht nur zu erzeugen, sondern auch ballistisch ins Ziel zu bringen, 2003 schon gar nicht existieren konnte.
Kurze Zeit nach dem Nein zum illegalen Angriffskrieg kam die SPD-Führung vor dem Kritiker aus den eigenen Reihen arg ins Zittern und Schlottern und agierte bar jeder Altersweisheit. Zur Feier des 140. Geburtstags der Partei am 23. Mai erhielt der ehemalige Vorsitzende Oskar Lafontaine keine Einladung. Dessen Kolumnen gegen die SPD-gestützte neoliberale Reformpolitik werden zwar nicht falsch, nur weil sie am falschen Ort erscheinen, aber offenbar geht den Parteioberen Lafontaines Kritik in der Bild-Zeitung zu weit beziehungsweise ziemlich nah. Man scheut die offene Auseinandersetzung mit dem Kritiker und verlegt sich aufs kleinkarierte Totschweigen.
Die Gründung vor 140 Jahren fand im Leipziger »Pantheon« statt. Der Berliner Jubiläumsakt wird vor imposantem Publikum im Berliner »Tempodrom« abgefeiert. Wenn das kein Menetekel ist! Vom götternahen Tempel hinab in den Orkus der Spaßgesellschaft. Klagen über die Aura und das Klima auf sozialdemokratischen Parteitagen haben freilich eine große Tradition. Rosa Luxemburg durchschaute 1903 die Parteitagsregie und kritisierte: »Bebels Rede war eine große Selbstapotheose... Überhaupt ist der ganze Parteitag ein Schlafzimmer Bebels, und dagegen kann man nichts machen.« Dass Schröder die Berliner Geburtstagsveranstaltung zur »Selbstapotheose« vor Publikum nützen wird, ist anzunehmen. Aber er wird sich gewaltig aufdrehen müssen, damit die champagnergeladene Festgemeinde nicht schlafzimmergerecht einschläft und schnarcht bis zum nächsten Glas.
Der legendäre Vorsitzende August Bebel sah den gleichen Parteitag freilich etwas anders als Rosa Luxemburg. Bereits im Vorfeld freute er sich »riesig auf eine Bombendebatte« über Eduard Bernstein und dessen Revisionsbemühungen und tadelte den Cheftheoretiker Karl Kautsky und dessen Parteitagsartikel als »zu weich; wenn wir von vornherein den Revisionisten zeigen wollen, daß wir bellen, aber nicht beißen wollen, lachen sie sich ins Fäustchen, und das Kapitol ist mal wieder gerettet.« Dass Bebel damit die Warnungen der Intellektuellen mit dem Geschnatter von Gänsen verglich, die der Legende nach die Römer einst vor angreifenden Galliern gewarnt hatten, kann Kautsky Co. nicht gefreut haben, ist aber ein realistisches Bild für das Verhältnis von politischen Machern und Intellektuellen in der SPD.
Das regelmäßige »Kopfwaschen« (Bebel) gehörte in der Vorkriegszeit zu den Ritualen sozialdemokratischer Veranstaltungen wie das Amen in der Kirche. Dass eine Partei, für die Peter Glotz einmal die Floskel von der »Streitkultur« parat hielt, heute davor zurückschreckt, ihren ehemaligen Vorsitzenden einzuladen, der ihr 1998 maßgeblich den »Weg zur Macht« (Kautsky) ermöglichte, beweist weder Selbstbewusstsein noch Stil. Der Sturz vom »Pantheon» ins »Tempodrom« gleicht dem von der Erhabenheit in die Lächerlichkeit, die nicht gerade tötet, aber nachhaltig blamiert. Das gilt auch für Lafontaine, der das Verhältnis von Schröder zu ihm mit jenem Stalins zu Trotzki verglich. Darf es auch etwas weniger sein? Wo sind die Lager, die Schauprozesse, die Geheimpolizei, und wer gibt der Mann mit dem Eispickel?
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