Wilhelm Tell, Teil zwei

Schweiz Jetzt ist das Rahmenabkommen mit der EU gescheitert – was der exportorientierten Wirtschaft missfällt
Ausgabe 22/2021
Containerschiffe auf dem Rhein, kurz vor Basel
Containerschiffe auf dem Rhein, kurz vor Basel

Foto: Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Im Oktober 2018 bereiteten die Schweizer Bürgerinnen und Bürger dem reaktionären Berufsschweizertum der SVP eine krachende Niederlage: Sie lehnten die Initiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“ ab, mit der das Land der nationalen Verfassung den Vorrang vor dem Völkerrecht eingeräumt hätte – im borniert-chauvinistischen Geist von „Swissness first“. Der Ausgang einer weiteren Volksabstimmung jüngst war der gleiche, als die Schweizerische Volkspartei die EU-Personenfreizügigkeit aushebeln wollte: Die Initiative erhielt keine Mehrheit. Sechs Monate später und drei Jahre nach der unsäglichen „Selbstbestimmungsinitiative“ war es nun, vergangene Woche, die Berner Regierung, die nach langer Hinhaltetaktik die Verhandlungen über ein „Rahmenabkommen“ mit der Europäischen Union platzen ließ. Es sollte die Beziehungen mit Brüssel, für die es bisher mehr als 120 bilaterale Verträge gibt, neu und einheitlich regeln.

In der Schweiz hatte man sich lange der Hoffnung hingegeben, den fast kostenlosen Zugang zum lukrativen EU-Binnenmarkt erhalten und die Rosinenpickerei im Schatten der Brexit-Verhandlungen fortsetzen zu können. Das souveräne Agieren Michel Barniers und seines Teams gegenüber der Chaos-Truppe aus London bereitete solchen Hoffnungen ein Ende. Der einseitige Verhandlungsabbruch der Schweiz – trotz Vorliegen eines unterschriftsreifen Vertragsentwurfs – blieb wirklich überzeugende Gründe schuldig; die Schweiz profitiert vom offenen EU-Binnenmarkt, in den fast zwei Drittel ihrer Exporte fließen, viel stärker als die EU-Staaten umgekehrt von den Importen aus der Schweiz.

Skeptische Gewerkschaften

Einen Knackpunkt bildete die Absicht der EU, mit dem Rahmenvertrag ein Schiedsgericht einzurichten für die Entscheidung über strittige Vertragsinterpretationen oder Vertragsverletzungen wie die der EU-Personenfreizügigkeitsregeln durch die Schweiz. Dagegen mobilisierte die Schweizer Rechte den legendären Schwur der Nationalhelden auf der Rütliwiese am Vierwaldstättersee, wonach man fortan „keine fremden Richter“ mehr dulde im eigenen Land, woraufhin der stärkste der Helden – Wilhelm Tell – den Gerichtsherrn und habsburgischen Vogt Gessler erschossen haben soll. Der Verbreitung dieser nationalen Legende hat es nie Abbruch getan, dass die Theaterfigur Tell erst ein paar hundert Jahre später von einem schwäbischen Dichter – Friedrich Schiller – erfunden wurde, sie fand vielmehr dauerhafte Aufnahme in den Schulunterricht.

Einen weiteren Streitfall bildete die Unionsbürgerrichtlinie, die seit dem Vertrag von Maastricht (1992) existiert und Unionsbürgern nach der Kernidee der europäischen Integration unbeschränkt visumsfreie Mobilität in der EU zubilligt. Der Journalist Gerhard Schwarz, eine Art Oberhaupt der Sekte des reinen Plusmacherei-Liberalismus unter der Flagge der freien Marktwirtschaft, schrieb in der NZZ von der „fast hindernisfreien Einwanderung in das schweizerische Sozialsystem“ und hält dies für „völlig inakzeptabel“, obwohl krank oder erwerbslos gewordene Arbeitnehmer aus der EU nach den egalitären und rechtsstaatlichen EU-Nomen selbstverständlich nicht anders behandelt werden dürfen als einheimische Arbeitslose oder Kranke. Die EU ist zwar kein Staat und die Schweiz kein EU-Mitglied, aber die Minimalstandards von Rechtsstaatlichkeit und Gleichbehandlung ließ sich die EU mit guten Gründen nicht abhandeln.

Bei einem anderen strittigen Thema wurden die Verhandlungsspielräume gar nicht richtig ausgelotet: Dass Schweizer Gewerkschaften das verhältnismäßig hohe Lohnniveau in der Schweiz gegen Lohndumping aus der EU verteidigen, ist ihr gutes Recht. Sie standen und stehen dem Rahmenabkommen deshalb skeptisch gegenüber. Unbestritten ist auch, dass die Instrumente zur Verhinderung von Lohndumping kontrolliert und den Verhältnissen angepasst werden müssen. Das Problem darf jedoch nicht dramatisiert werden, denn nur etwa ein Prozent der Schweizer Arbeitnehmer ist überhaupt davon betroffen.

Unzufrieden mit der Entscheidung der Berner Regierung zum Abbruch der Verhandlungen sind indessen die Verbände der exportorientierten Wirtschaft mit einem Volumen von mehr als 70 Milliarden Euro pro Jahr.

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